Tolstoi Und Der Lila Sessel
Kunstgeschichte und Philosophie, Romane und Gedichte, ihre Tim-und-Struppi -Sammlung. Zwischen Regalen und Schreibtisch befanden sich drei Fenster nach Norden ohne direktes Sonnenlicht. Eine William-Morris-Tapete in Grün und Grau bedeckte die verbleibende Wandfläche mit Blumenranken, die sich der Decke entgegenstreckten.
In der Zimmermitte stand ein braunes Sofa, davor ein niedriger Couchtisch, der mit Büchern, Zeitschriften und DVD-Hüllen vom Videoverleih übersät war. Neu in der Wohnung war ein Fernseher mit DVD-Spieler, ein Geschenk meiner Eltern, der dem Sofa gegenüber stand. Anne-Marie und Marvin sahen sich jetzt abends Filme an, während sie darauf warteten, dass die Medikamente endlich wirkten und meiner Schwester ein paar Stunden Schlaf brachten, bevor Schmerzen und Unwohlsein sie wieder aufweckten.
An diesem Samstag hatte Anne-Marie noch eine andere Besucherin, eine alte Kommilitonin aus der Uni, die am Williams College unterrichtete. Liz war kurz vorbeigekommen und verabschiedete sich bald nach meiner Ankunft wieder. Sie roch gut, nach einem leichten Parfüm, feuchte grüne Blätter. Nachdem sie weg war, hing der süßliche Geruch noch in der Luft, zusammen mit dem sanften Aroma von Güte und Besorgtheit, das jetzt über allen Besuchen bei meiner Schwester lag. Als wir allein waren, setzte ich mich neben Anne-Marie aufs Sofa und wollte meinen üblichen – und wie ich hoffte, amüsanten – Bericht über meine wilden Kinder, mein Life Among the Savages (deutsch: Nicht von schlechten Eltern ), abliefern. Anne-Marie und ich liebten beide Shirley Jacksons Buch mit ihren urkomischen Schilderungen vom Leben unter Wilden : den Alltag in der Vorstadt mit kleinen Kindern.
Aber Anne-Marie wollte nichts von den Jungen hören. Sie drehte sich zu mir um, streckte ihre mageren Arme nach mir aus und drückte mich ganz fest an sich. Ich vergrub mein Gesicht in ihren Haaren.
»Es ist so ungerecht«, sagte sie.
»Ich liebe dich«, war das Einzige, was ich darauf antworten konnte. Ich drückte die Nase in Anne-Maries grauen Pulli und atmete tief ein. Es war gar nicht Liz gewesen, die so gut gerochen hatte. Es war Anne-Marie. Natürlich. Ich kannte diesen Duft. Mitsouko. Anne-Maries Lieblingsparfüm. Ich atmete immer wieder tief ein. Ich drückte Anne-Marie noch fester an meine sich hebende und senkende Brust. Ich wollte sie wieder gesund machen. Ich wollte ihr ihre Zukunft zurückgeben. Ich konnte nicht verstehen, was sie als Nächstes zu mir sagte, ich war zu nah, in ihrem Haar und in ihrem Pulli vergraben.
Den grauen Pulli habe ich behalten. In diesen Tagen trage ich ihn oft, wenn ich beim Lesen in meinem lila Sessel sitze und die Februarkälte hinter den Fenstern meines Musikzimmers spüre. Oben im Kleiderschrank steht ein noch halb voller Flakon Mitsouko, und wenn ich es ertragen kann, öffne ich ihn und atme tief ein. Manchmal frage ich mich, welche Worte mir wohl damals, als ich den Kopf an ihre Schulter geschmiegt hatte, entgangen waren. Welche Weisheiten habe ich nicht gehört?
Anfang Februar fand ich Worte der Weisheit in der Lebensgeschichte einer anderen Frau, die ebenfalls zu jung gestorben war. Fenimore von Elizabeth Maguire ist die Romanbiografie der Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson, die im 19. Jahrhundert lebte. In der Eingangsszene rudert die junge Constance von Mackinac Island im nördlichen Michigan aus allein auf den Huronsee hinaus. Sie atmet schwer vor Anstrengung, aber das macht ihr nichts aus, es ist »der Luftstrom der Gesundheit«. Sie ist fest entschlossen, nie zu heiraten und sich nicht den Krankheiten auszusetzen, die im Kindbett lauerten: »Sicherlich war es ungerecht, die Ehe für den Tod ihrer beiden Schwestern verantwortlich zu machen, sie selbst aber würde das Risiko nicht eingehen. Das eigene Leben für einen Mann aufgeben? Nicht sie. Sie hatte noch zu viel vor.«
Und in Maguires Roman hat Constance Fenimore Woolson wirklich sehr viel vor. Sie wird Schriftstellerin und schreibt Erzählungen, Reiseberichte, Artikel und dergleichen, womit sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter verdient. Sie bereist die amerikanische Ostküste und bringt ihre Mutter der Gesundheit wegen nach Florida. Sie verschlingt alle Neuerscheinungen, und als ihre Mutter stirbt, verstößt sie gegen die guten Sitten und macht sich auf nach Europa, weil sie unbedingt eines ihrer großen literarischen Vorbilder kennenlernen möchte: Henry James. Zwischen Henry James und ihr entwickelt
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