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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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und Schlafenszeiten für die Kleinen uneins. Wie Rilke in seinem Gedicht Die Schwestern schreibt: »Sieh, wie sie dieselben Möglichkeiten / anders an sich tragen und verstehn, so als sähe man verschiedne Zeiten / durch zwei gleiche Zimmer gehn.« Und doch liebten wir einander rückhaltlos. In den wichtigsten Augenblicken waren wir füreinander da und in den weniger wichtigen auch.
    Anne-Marie war die Erste aus meiner Familie, die Jack kennenlernte. Ihre lebhafte Zustimmung (»Ihr zwei passt perfekt zueinander, ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen!«) überzeugte alle, mich eingeschlossen. Sie half mir durch die ersten Wehen vor Peters Geburt. Wir liefen am Hudson River auf und ab, wobei Anne-Marie die Uhrzeit jeder Wehe auf einem Stück Papier notierte. Zu jedem Geburtstag bekam Peter einen selbst gebackenen Kuchen von ihr. Der beste war der in Form eines Riesenlegosteins mit knallrotem Zuckerguss. Ich habe ein Fotoalbum von allen Kuchen, die sie im Laufe der Jahre für ihn gebacken hat. Auf jedem der Bilder beugt sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu Peter hin und bietet ihm mit beiden Händen seinen Geburtstagskuchen dar.
    Von einer Figur in Ernest J. Gaines’ Roman Jeffersons Würde lernte ich die einfachste und doch zutiefst bewegende Erklärung für die Liebe. Erzählt wird die Geschichte von Grant, einem jungen Lehramtsanwärter aus den Südstaaten, der überredet wird, Jefferson zu unterrichten, einen Jungen, der für einen Mord, den er mit angesehen, aber nicht begangen hat, zum Tode verurteilt worden ist. Jeffersons Patentante hat Grant angeheuert, damit Jefferson vor seinem Tod eine gewisse Bildung zuteil wird, sodass er wie ein Mann sterben kann und nicht wie ein »Schwein«, wie sein eigener Verteidiger ihn nennt. Sie will, dass ihr Patensohn am Ende die Würde besitzt, »nicht zu dem weißen Mann hinzukriechen, sondern dass er in seinem letzten Augenblick aufrecht stand und ging«.
    Bei einem Besuch in der Todeszelle wird Grant Zeuge, wie Jefferson zu seiner Patin sagt: »Ist doch egal … Ist doch alles scheißegal.« Die Patentante antwortet: »Mir ist es nicht egal, Jefferson … Du bist mir nicht egal.«
    Du bist mir nicht egal. Als ich diese Worte las, dachte ich, mir würde das Herz bersten. Das ist die Krux der Liebe, dass eine Person einer anderen nicht egal ist. Dass mir ein ganz bestimmtes Leben unter all den anderen wichtig ist. Wir sind nicht austauschbar. Wir sind einzig in der Art, in der wir geliebt werden.
    Einen anderen Menschen zu begehren ist nicht dasselbe, wie diesen in seiner Einmaligkeit zu schätzen und zu brauchen; auch Zuneigung ist etwas anderes. Lust kommt und geht, und Zuneigung kann man auch ohne langjährige Bindung verspüren. Aber »Du bist mir nicht egal« heißt, die langfristige Perspektive nicht nur zu akzeptieren, sondern zu wollen: Ich werde dich tragen, halten, dich bestärken, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Zuverlässigkeit: Ich werde für dich da sein. Und wenn du nicht mehr bist, dann werde ich da sein, um an dich zu denken.
    Wenige Tage vor der unerwarteten Facebook-Nachricht von Andrew hatte Jack mich angerufen. Unsere Jungen waren zu Hause, ich war gerade dabei, mein Buch des Tages fertig zu lesen, The Age of Dreaming von Nina Revoyr.
    »Bitte komm, ich muss zum Arzt. Ich habe Schmerzen in der Brust.« Eine Stunde später sah ich zu, wie er auf einer Trage, angeschlossen an Monitore und Sauerstoff und weiß Gott was alles, weggeschoben wurde. Ich fuhr nach Hause und erzählte unseren Söhnen nichts, nur, dass ich früher zu meinem Theaterkurs gehen würde und Peter dafür verantwortlich sei, Pizza zu bestellen und alle rechtzeitig ins Bett zu schicken. Ich gab jedem einen Gutenachtkuss und fuhr ins Krankenhaus.
    Der Mann an der Anmeldung schickte mich mit einem Augenzwinkern auf die kardiologische Abteilung: »Sagen Sie mir Bescheid, wenn’s schlecht aussieht.« Sah er in mir eine potenzielle Witwe, die er anmachen wollte? Es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Die Tränen, die ich bisher unterdrückt hatte, flossen mir über die Wangen.
    Wie sich herausstellte, fehlte Jack nichts. Ich würde nicht Witwe werden, Pech für den Romeo an der Rezeption. Es war doch kein Herzinfarkt gewesen. Herzaktivität, Sauerstoffversorgung und sonstiger Gesundheitszustand erwiesen sich als normal. Ich verbrachte den ganzen Abend an Jacks Seite, um mich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Als der Arzt zur Abendvisite erschien, machte

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