Tolstoi Und Der Lila Sessel
den Unfall als Einschreiten Gottes anzusehen, als Strafe für die Lüge, die wir Alfonsos Mutter aufgetischt hatten. Nicht einmal, als der bestürzte Autofahrer mir ein Geschenk mit ins Krankenhaus brachte, eine leuchtende Giralda im Kleinformat, die direkt vor meinem Gesicht explodierte, als ich sie in die Steckdose steckte, wollte ich ein göttliches Mitwirken an meinem Schicksal erkennen – ich sah nichts als Alfonso. Ich war verliebt.
Am Tag, an dem ich Sevilla verließ, wünschte der Vater meiner Gastfamilie mir Glück mit Alfonso und riet mir, ihn nicht mehr gehen zu lassen.
»Väterlicherseits stammt er aus einer alten sevillanischen Familie. Und auf der Seite seiner Mutter ist Franco.«
Ich hatte mich in einen Sprössling aus der Familie Francisco Francos verliebt! Alfonso war nicht mörderisch, sondern nur liebevoll gesinnt, aber beim Gedanken an Franco schauderte mir trotz der Hitze.
Natürlich konnte ich nicht bei Alfonso bleiben – Zeit und Entfernung machten das unmöglich. Aber ich sah ihn wieder, drei Jahre später, als ich mein drittes Studienjahr in Spanien verbrachte. Er lebte in der Nähe von London, wo ich ihn besuchte. In Tunbridge Wells führte er mich zu einem indischen Curry aus. Er war immer noch derselbe liebenswerte junge Mann wie in Sevilla und auf seine etwas zerzauste Art so hübsch wie eh und je. Ich war nicht mehr in ihn verliebt, aber ich wusste noch, wie gut er zu mir gewesen war, ich erinnerte mich gern an unsere mitternächtlichen Streifzüge durch die überfüllten Gassen Sevillas, an die Gläser Postura, die wir zusammen getrunken hatten, und daran, wie er von seiner Stadt geschwärmt hatte, als er meine Hand hielt.
Im Laufe der Jahre verliebte ich mich noch einige Male und dachte bei jedem der Männer, er sei die Liebe meines Lebens. So wie die Figur »die Hopse« in Nancy Mitfords Englische Liebschaften sagt: »Das denkt man immer. Jedes, jedes Mal.« Die Hopse musste es ja wissen: Sie ließ ihre Kinder immer wieder im Stich, um neuen Liebschaften nachzugehen. Ich heiratete die letzte große Liebe meines Lebens, und wir waren glücklich. Und nun, aus heiterem Himmel, wollte der Geliebte, für den ich Bände von Gedichten geschrieben hatte, für den ich in einer Nacht den Campus sechs Mal überquerte, um einen letzten Gutenachtkuss zu bekommen, auf dessen Brust ich mit Filzstift meinen Namen geschrieben hatte, um andere Frauen von ihm fernzuhalten, dieser Geliebte wollte wieder in mein Leben zurück. Ich hatte schöne Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, aber Liebe?
Im Dezember hatte ich auf Drängen der Tochter einer Freundin Biss gelesen und mich dabei köstlich amüsiert. Als ich jetzt über die Liebe nachdachte, wurde mir klar, wie gekonnt Stephenie Meyer diesen ersten Rausch beschreibt, wenn man körperlich und seelisch immer mehr vom anderen will. Bella ist neu in der Schule, sie fühlt sich einsam und als Außenseiterin. Edward, ihr charmanter, gut angezogener und sehr cleverer Banknachbar aus dem Chemieunterricht, übt eine unheimliche Anziehung auf sie aus. Als sie herausfindet, dass er ein Vampir ist, begehrt sie ihn nicht weniger, sondern womöglich noch mehr als zuvor. Bella beschreibt das »überwältigende Verlangen«, ihren geliebten Vampir zu berühren, und dieses Verlangen erkannte ich wieder. In Sevilla hatte ich es zum ersten Mal verspürt, ein beängstigendes und zugleich herrliches Gefühl. Es gibt nichts, was so erregend ist wie die Erwartung des ersten Kusses. Geschickt verflicht Meyer Teenagerhormone (sexuelle Begierde) und übersinnliche Phänomene (Vampire) miteinander und macht aus der Leidenschaft einen Kampf des Guten gegen das Böse. Das sinnliche Verlangen ist ein Ungeheuer, das von der jungen Geliebten (der Guten) angenommen, ja, ermutigt wird, weil sie weiß, dass sie das Böse zähmen kann. Alfonso hatte absolut nichts Böses an sich, Andrew hingegen schon; und meine Sehnsucht, diese dunkle Macht in ihm zu zähmen, war siebenundzwanzig Jahre zuvor übermächtig.
Vielleicht ist es gerade das, was Liebe ausmacht: die Zähmung der sinnlichen Begierde zu etwas Solidem, Dauerhaftem. Die Leidenschaft, die Jack und mich heute verbindet, ist anders als unser erster Silvesterkuss vor zwanzig Jahren. Wenige Wochen nach jenem ersten Feuerwerk der Leidenschaft musste Jack beruflich nach Utah fliegen. Ich konnte die Trennung von ihm nicht ertragen, sprang ebenfalls in ein Flugzeug und flog ihm nach. Zusammen beobachteten wir ein Gewitter über
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