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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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bitter nötig hatte. Während die Kinder im Sommerlager waren, sich in ihren Zimmern aufhielten oder im Garten herumtobten, reiste ich in die Ferne und durch die Zeiten und fand sowohl neue als auch alte Stätten, deren Besuch sich lohnte.
    Mit William Trevor und Mein Haus in Umbrien kam ich nach Italien, wo »ein gelbliches Gebäude am Ende eines Weges« stand. »Im Sommer bedecken Ginster und Goldregen die kleebestandenen Hänge, Mohn und Geranien sprenkeln die Wiesen.«
    »Mom!« Georges Stimme holt mich zurück in die Wirklichkeit. »Was gibt es heute Abend zu essen?«
    Hmmm? »Nudeln, glaube ich … al olio.« Ich schließe die Tür zu meinem Musikzimmer und bin wieder in Umbrien.
    Ich stand mitten in der Nacht auf, um mit Claire Keegan in ihrer Kurzgeschichte Durch die blauen Felder einen Spaziergang zu machen: »Über die Wiesen hat sich das dunkle Blau der Nacht gebreitet … Der Frühling ist gekommen, trocken und verheißungsvoll. Die Erle sprießt, ihre blassen Äste glänzen metallisch … Die Luft ringsum ist vom scharfen Geruch wilder Johannisbeersträucher erfüllt. Ein Lamm erwacht aus tiefem Schlaf und läuft durch das blaue Feld. Über ihm sind die Sterne an ihre Plätze gerollt.« Seit ich W. B. Yeats erst am College und in den Jahren danach immer wieder gelesen hatte, wollte ich nach Irland, und jetzt war ich da.
    In Die Seeinsel von Innisfree von Yeats heißt es:
»Dort werd ich etwas Frieden haben, denn Frieden sinkt nur langsam herab,
Von den Schleiern des Morgen dorthin, wo die Grille singt;
Die Mitternacht ist dort ganz Schimmer, der Mittag violettes Glühen,
Und der Abend voller Hänflingsschwingen.«
    Dies ist eins meiner Lieblingsgedichte, weil es mich an die Landschaft meiner Kindheit erinnert – ich bin am Ufer eines Sees aufgewachsen –, aber es bietet noch etwas Neues und anderes, nämlich die Rückzugsmöglichkeit einer kleinen Hütte »aus Lehm und Flechtwerk«. Flechtwerk? Egal. Ich wollte gerne wieder am Ufer eines Sees leben, diesmal in einer kleinen Hütte neben »Bohnenreihen« und »einem Korb für die Honigbiene«. Ich wollte da sein, wo die Grillen sangen und der Abend »voller Hänflingsschwingen« war.
    Hänfling? Keine Ahnung, aber es reizte mich. Die Mischung von Fremdem und Vertrautem war verlockend.
    Ich wollte aber auch das, was lange vorbei und verschwunden war. Nachdem ich meine Schwester verloren hatte, war meine Sehnsucht, in der Zeit zurückzureisen, gewachsen. Ich wollte sie besuchen, eine Reise in das Evanston unserer Kindheit machen. Im Sommer, wenn wir Mädchen lange aufbleiben und draußen spielen durften: Fangen und Verstecken und Fang-den-Ball mit den Nachbarskindern. Wenn wir des Herumrennens müde waren, ließen wir uns einfach ins Gras fallen und purzelten übereinander. Wenn sich Hunger regte, übernahmen die Ältereen wie Anne-Marie die Organisation und schickten die Jüngeren ins Haus, um Lutscher oder Pfirsiche zu holen oder, noch besser, Geld für den Eiswagen, der schon zu hören war.
    Der Benzingeruch des Eiswagens und die laute Erkennungsmelodie, die in Endlosschleife lief, erreichten uns, lange bevor der Wagen, beladen mit Eistüten, Eisschnitten und Eis am Stiel, in Sicht kam und unsere Straße entlangtuckerte. Wenn wir unser Eis verspeist hatten, blieben meine Schwestern und ich so lange draußen auf den Stufen sitzen, bis unsere Eltern uns ins Haus riefen. Glühwürmchen blinkten auf dem Rasen, im Gebüsch, in den Bäumen. Wir sprachen nie darüber, was wir als Erwachsene tun wollten. Wenn wir unter dem weiten Nachthimmel saßen und den Glühwürmchen zusahen, die leuchteten und wieder erloschen, wussten wir, dass wir genau das tun würden, was wir tun wollten. Alles war möglich.
    An diesen Ort und zu diesen Gefühlen kehrte ich zurück, als ich Kevin Cantys Geschichte Burning Bridges, Breaking Glass aus dem Erzählungsband Where the Money Goes las. Vordergründig erzählt die Geschichte von der Affäre zwischen einer jungen Frau und einem älteren Mann, aber ihr eigentliches Thema ist die große Fruchtbarkeit des Mittleren Westens, sind die wild sprießenden Möglichkeiten, die sich an langen Abenden unter dem endlosen Sternenzelt eröffnen. Canty schreibt von »dem Parfum eines Frühlings im Mittleren Westen, Benzin, Rosen und Teer, das Geräusch aufjaulender Motoren, das ständige Zischen der Reifen auf der Interstate, das Klirren von zerberstendem Glas und Lachen, die Geräusche des Lebens selbst«. Für mich war es Sommer, nicht

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