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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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MacDonald vorkam und sie zu lesen eine Sucht war, die ich mit meinem Vater teilte, sondern auch, weil Krimis als Genre uns allen etwas über die Welt und über unsere Bemühungen, unseren Platz in der Welt zu verstehen, sagen können.
    Jeder in unserer Familie las Krimis. Besonders im Sommer verschlangen wir stapelweise Geschichten über Mord, mysteriöses Verschwinden und alle Arten von Verrat und Betrug. Nichts war schöner, als noch spätabends am Strand zu liegen und atemlos den undurchsichtigen Handlungssträngen zu folgen. Mein Vater verbrachte die Sommer mit zwei Macs: John D. MacDonald und den Travis-McGee-Romanen sowie Ross Macdonald und dessen Lew-Archer-Serie. Meine Mutter las lieber Rex Stout und P. D. James, Anne-Marie liebte Agatha Christie, und Natasha las nichts lieber als die Lord-Peter-Wimsey-Romane von Dorothy L. Sayers. Ich begann früh mit den Rennbahnkrimis von Dick Francis und verschlang ebenso viele MacDonalds und Macdonalds wie mein Vater.
    In meinem ersten Sommer in New York lud Anne-Marie mich ein, jederzeit zu ihr nach Bellport zu kommen. Nach einer Siebzig-Stunden-Arbeitswoche, manchmal auch mehreren hintereinander, war es wie ein Geschenk, am ersten freien Wochenende aus der klebrigen, drückenden Hitze New Yorks in die salzhaltige frische Luft am östlichen Ende von Long Island zu kommen. Wenn ich dort eintraf, hatte ich lediglich einen Badeanzug und ein Paar Shorts dabei. Alles andere, was ich brauchte, gab mir Anne-Marie, von Sonnenschutzcreme bis zu einem eigenen Zimmer unterm Dach. Bis auf ein großes Doppelbett mit einer vom vielen Waschen verschossenen grün-weißen Tagesdecke, einer Stehlampe mit Spinnwebendekoration und einem Strohkorb voller New York -Magazine, die bis in die Siebzigerjahre zurückdatierten, war das Zimmer leer.
    An meinem ersten Wochenende in dem Haus entdeckte ich eine Schatzkiste voller Krimis. Unter meinem Dachzimmer war Anne-Maries Arbeitszimmer mit Wänden voller Bücherregale. Auf der einen Seite standen wissenschaftliche Bücher, Abhandlungen über Architektur, philosophische Werke, kunstgeschichtliche und theoretische Schriften. Auf der anderen Seite Romane, Gedichtbände – und Krimis. In meinem ersten Sommer als New Yorkerin las ich sämtliche Bücher von Agatha Christie noch einmal.
    Noch bevor meine Kinder lesen konnten, machte Anne-Marie sie mit der Sommer-Krimi-Tradition vertraut. Sie setzte sich mit ihnen auf die Veranda vor dem Haus in Bellport, übersetzte für sie alle ihre Tim-und-Struppi -Comic-Hefte von Hergé aus dem Französischen und begeisterte sie für Die Juwelen der Sängerin , Der blaue Lotos und Die schwarze Insel . Als die Kinder größer waren, ging Anne-Marie mit ihnen in die Bibliothek von Bellport, wo sie die Buchbestände der Kinderabteilung durchstöberten. Mit dem Büchereiausweis ihrer Tante entliehen sie die Nick-Nase-Abenteuer von Marjorie Weinman Sharmat und die Krimis von Elizabeth Levy.
    Im ersten Sommer nach Anne-Maries Tod fuhren Jack, die Kinder und ich nach Bellport, um Marvin zu besuchen. Als wir in die Einfahrt einbogen, wurde mir bewusst, dass ich fest damit gerechnet hatte, Anne-Marie würde über den Rasen kommen und uns begrüßen, nachdem wir aus dem Auto geklettert waren. Natürlich kam sie nicht. Sie war nicht mehr da; erst einen Monat zuvor hatten wir ihre Asche im Meer bei Fire Island verstreut. Aber wie hatte ich nach Bellport fahren können, zu Anne-Maries Haus, wenn sie mich dort nicht mehr erwartete? Während die Jungen aus dem Auto tobten, über den Rasen rannten, durch die Fliegentür stürmten und nach Marvin riefen, blieb ich im Auto sitzen.
    Irgendwann stieg ich auch aus und stieß zu den anderen im Haus. An dem Nachmittag ging ich in Anne-Maries Arbeitszimmer und fuhr mit der Hand an der Reihe ihrer Agatha-Christie-Titel entlang. Ich nahm Zehn kleine Negerlein heraus, stellte es aber gleich wieder zurück. Noch konnte ich kein Buch lesen, das meine Schwester auch gelesen hatte. Ich setzte mich in den alten grauen Sessel, mit Blick nach Westen über die Hecke, die erst vor ein paar Jahren gepflanzt worden, aber schon hoch gewachsen war, und weinte.
    Seit jenem Sommer sind wir jedes Jahr nach Bellport gefahren, und jedes Jahr habe ich aufs Neue das Gefühl, dass Anne-Marie diesmal über die Wiese kommen und mich begrüßen wird. Es ist ein flüchtiges Gefühl, ein Moment der Verwirrung angesichts der Realität dessen, was ich weiß, aber diesen einen Moment lang liegt in der Möglichkeit,

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