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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Beeren. Die Bäume, schwarz und deutlich abgehoben vor dem Himmel, und dahinter die Berge, purpurn unter einem Dunst aus Rosa und Apricot. Die kalte Luft stach mir in die Wangen, ich atmete sie in tiefen Zügen in meine Lungen ein. Ich hatte das Gefühl, fliegen und mich über die Berge erheben zu können, allein durch die Energie, die von der erwachenden Erde aufstieg und jetzt durch meine Adern jagte.
    Ich war wie der Junge in der Erziehungsanstalt, der in den Morgen hinausläuft, um ihn herum die Welt frisch und offen: »Sobald ich jenen ersten weiten Satz raus in das frostige Gras des frühen Morgens mache, wenn sich sogar die Vögel nicht traun zu pfeifen, fang ich an nachzudenken, und das mach ich gern … Manchmal denk ich, ich bin noch nie so frei gewesen wie in den beiden Stunden, wenn ich den Weg draußen vor den Toren lang trotte und bei der laublosen, breitbauchigen Eiche am Ende des Heckenwegs wende.« Ich erkannte das Gefühl »noch nie so frei« – so fühlte ich mich an jenem Morgen in den Adirondacks.
    Eine Zeitreise zu unternehmen hieß, in eine Zeit zurückzukehren, in der ich optimistisch war und keine Grenzen spürte, in eine Zeit vor dem Tod meiner Schwester. Jeder kennt es, dieses Vorher-Nachher, in das unser Leben durch einen Verlust, ein Leiden, ein Unglück geteilt wird. Für mich war es der Tod meiner Schwester – unerwartet und zu früh. In den Monaten nach Anne-Maries Tod verlor ich alles Vertrauen in die Zukunft. Ich begriff den Tod meiner Schwester als Zeichen dafür, dass die Welt nicht mehr für mich da war, nicht mehr auf mich wartete.
    Aber ich hatte mich geirrt. Im Laufe des Lesejahres entdeckte ich, dass der »grüne Funke noch da war« und mir wieder alle Möglichkeiten offenstanden. Nicht nur entführten mich die Bücher in Abenteuer und neue Welten, sondern die von den Schriftstellern geschaffenen Charaktere, die beschriebenen Orte und Stimmungen machten es mir möglich, zu einer Zeit in meinem Leben zurückzukehren, als ich mich auf das Morgen freute.
    Wie soll man leben? In der Gegenwart verankert, aber bereit, an fremde Orte und in andere Zeiten zu reisen. Davon hing meine Zukunft ab. Hin und wieder müssen wir alle den großen und kleinen Anstrengungen, Kümmernissen und Enttäuschungen des täglichen Lebens entkommen. Ich brauchte einen Ausweg aus der Gegenwart und wollte in die Zeit zurückkehren, die Anne-Marie und ich zusammen erlebt hatten und in der alles, was vor uns lag, unendlich und wunderbar schien.
    Meine Zukunft ist nicht unendlich, das weiß ich jetzt. Aber mein Leben ist immer noch voller Möglichkeiten, so wie damals, als ich ein Kind war und mit meinen Schwestern auf den Stufen saß, Eis leckte und den Glühwürmchen zusah, die auf der dunklen Wiese aufglommen und wieder erloschen.

18
Krimis – des Rätsels Lösung
Ich begriff, dass es meine Entscheidung war, ob ich das Ende als ungerecht oder unbefriedigend verstehen und daran leiden wollte, oder ob ich beschloss, dass es so, genau und gerade so seine Richtigkeit hat.
BERNHARD SCHLINK , Selbs Mord
      Ich sehe es alles vor mir: Ein gelber Hut treibt auf dem Wasser, braunes Haar breitet sich wie ein Fächer darunter aus. Das erste Mal las ich The Scarlet Ruse von John D. MacDonald vor dreißig Jahren, und ich erinnere mich noch genau, wie Travis McGee der Frau das Haar abschnitt und es an dem Hut befestigte. Den Hut warf er hinaus in die Bucht, als Köder. »Es war besser, als ich gehofft hatte. Es versetzte sie in Panik. Sie trieb draußen auf dem Wasser, tot auf einem Floß. Ich fragte mich, ob sie je die Tatsache ihres bevorstehenden und unvermeidbaren Todes begriffen hatte. Heute, meine Freunde, haben wir alle einen Tag weniger zu leben, jeder von uns. Und das Einzige, was die Zeit langsamer vergehen lässt, ist Lebensfreude.«
    Weisheit aus einem Kriminalroman, einer in einer Serie von einundzwanzig farbcodierten Büchern MacDonalds, von denen mein Vater im Laufe der langen heißen und schwülen Sommertage und -nächte in Chicago alle las und ich die meisten.
    Ein Buch muss nicht zum Kanon der großen Weltliteratur zählen, um etwas im Leben des Lesers zu verändern. Ich war siebzehn, als ich den Satz bei MacDonald las. Der Vorsatz, sich aus seinem Elend zu befreien und sich an kleinen und großen Glücksfällen zu erfreuen, ist für mich heute wichtiger als damals, aber schon mit siebzehn löste es etwas in mir aus und blieb mir in Erinnerung. Nicht nur, weil es in einem der Krimis von

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