Tolstoi Und Der Lila Sessel
dass sie in schwarzen Sandalen, kurzen Khakishorts und weißem T-Shirt über die Wiese kommt, mehr Sinn, als ihr Tod jemals für mich haben wird. In meiner inneren Welt wünsche ich mir eine Ordnung, in der Anne-Marie eine herausragende und konstante Rolle spielt. Eine andere Welt ergibt für mich keinen Sinn.
Hinter meiner Krimisucht verbirgt sich diese Sehnsucht nach Ordnung. Sicher, in einen guten Krimi sind auch immer kleine Lebensweisheiten eingestreut, aber was ich eigentlich suche, sind Lösungen. Ich suche nach einer Ordnung. In einer Welt, die manchmal nur wenig Sinn ergibt, spielt die Handlung eines Krimis die Winkelzüge des Schicksals so durch, dass sie irgendwann doch einen Sinn ergeben. Die Lösung auf eine Frage wird gefunden. Das Gefühl der Befriedigung ist enorm.
Weil dies das Jahr war, in dem ich ein Buch am Tag las, würden wir nur einen kurzen Ausflug nach Bellport machen, gerade lang genug für Lunch und einen Nachmittag am Strand. Auch diesmal blieb ich, als wir ankamen, im Auto sitzen, während Jack und die Kinder über die Wiese zum Haus rannten. Ich wartete, aber Anne-Marie kam nicht. Wie oft ich auch nach Bellport kam, wie lange ich auch im Auto sitzen blieb, Anne-Marie würde nie wieder über die Wiese auf mich zu kommen und mich mit einem Lächeln und einem Kuss begrüßen. Ich wartete noch einen kurzen Augenblick, dann ging ich ins Haus zu den anderen.
An dem Nachmittag fuhren wir in Marvins Motorboot über die Great South Bay nach Fire Island hinüber. Es war ein heißer, sehr windiger Tag, und riesig hohe Wellen brandeten an die Küste von Fire Island. Mir war die See zu bewegt zum Schwimmen, und ich lag ohnehin lieber unter dem Sonnenschirm und las. Zum Glück hatte ich dieses Jahr eine gute Ausrede: »Ich muss das Buch von heute auslesen!« Ich schlug einen Krimi von Bernhard Schlink mit dem Titel Selbs Mord auf und fing an zu lesen. Richtig berühmt geworden ist Schlink mit dem Buch Der Vorleser , aber dieser Krimi fesselte mich von der ersten Seite an.
Schlink erzählt von Gerhard Selb, einem Privatdetektiv, der unter den Nationalsozialisten Staatsanwalt war und sich zu einem wohltätigen Menschen wandelt. Als Privatdetektiv ist Selb sehr bemüht, seine Fehler in der Vergangenheit wiedergutzumachen, und erlegt sich Fleiß und Arbeit als Buße auf. Er ist über siebzig und weiß genau, potenziellen Klienten »imponiert ein junger Bursche mit Handy und BMW, von der Polizei ins private Sicherheitsgeschäft gewechselt, mehr als ein alter Kerl in einem Opel Kadett«. Trotzdem, Selb will noch nicht aufhören. Er müht sich weiter, kümmert sich um die, die sich Hilfe von ihm erhoffen, und muss immer wieder erkennen, dass er manchmal nichts für sie tun kann: »... wieder quälte mich die Ohnmacht, nichts mehr tun, nichts mehr in Ordnung bringen zu können.«
Plötzlich wurde ich bei meiner Lektüre unterbrochen.
»Mom! Willst du nicht mit uns bodysurfen?«, rief Peter vom Wasser.
»Heute nicht, Schatz, das Buch ist so gut.«
Selb nimmt einen neuen Fall an und hilft einem Bankdirektor, die wahre Identität eines seiner stillen Teilhaber aufzudecken. Die Suche führt in unerwartete Richtungen, zurück in die Zeit des Raubs jüdischen Eigentums unter den Nazis und wieder in die Gegenwart, in das wiedervereinigte Deutschland, wo Neonazis und Skinheads ihr Unwesen treiben und die Bevölkerung Ostdeutschlands in die westdeutsche Gesellschaft integriert werden soll.
Selb löst schließlich das Geheimnis um den stillen Partner und deckt gleichzeitig ein Komplott um Täuschung und Diebstahl auf, das zu einer Reihe von Morden geführt hat. Doch er kann das, was er über den Mörder weiß, nicht beweisen, und am Ende wird der Täter für seine Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen. Selb fühlt sich betrogen. Er hat die Mordfälle gelöst, aber die Befriedigung, dass der Täter die gerechte Strafe bekam, bleibt ihm versagt. Da versteht Selb, dass er, wenn er bei Verstand bleiben will, akzeptieren muss, was er nicht ändern kann. »Ich begriff, dass es meine eigene Entscheidung war, ob ich das Ende als ungerecht oder unbefriedigend verstehen und daran leiden wollte, oder ob ich beschloss, dass es so, genau und gerade so seine Richtigkeit hat.«
Weisheit aus einem Krimi, am Strand entdeckt. Und eine neue Vorstellung davon, wie das Universum zu ordnen sei. Wir können nicht bestimmen, was um uns herum geschieht, aber wir allein entscheiden, wie wir mit den Ereignissen umgehen. Ich war
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