Tolstoi Und Der Lila Sessel
seine erbärmlichen Lebensumstände bemerkte und ihm eine helfende Hand reichte. Dieser Mann, ein Therapeut, bewies Güte und Anteilnahme, Gefühle, die der Junge bisher in seinem Leben nicht gekannt hatte. »Er behandelte mich wie einen Lieblingssohn«, schreibt Small. »Er hatte mich wirklich ins Herz geschlossen.« Die Fürsorge des Therapeuten und der Schutzraum, den die Kunst ihm bot, ermöglichten es Small, die Qualen der Kindheit hinter sich zu lassen und in ein erfülltes Leben aufzubrechen.
In ihrem Buch On Kindness argumentieren die Autoren Adam Phillips und Barbara Taylor, dass Freundlichkeit der Inbegriff des menschlichen Wesens sei: »Die Geschichte lehrt uns, dass es verschiedene Ausdrucksformen des menschlichen Wunsches gibt, zwischenmenschliche Verbindung zu schaffen, zunächst die klassische Verehrung der Freundschaft, dann die christliche Lehre von der Liebe und Nächstenliebe und schließlich die im 20. Jahrhundert entwickelten Theorien über soziale Fürsorge.« Phillips und Taylor sind der Auffassung, dass wir Kraft daraus gewinnen, wenn wir anderen Menschen das Leben erleichtern, indem wir ihre Ängste lindern und sie in ihren Hoffnungen bestärken. Und wenn diese Freundlichkeit erwidert wird, blühen wir selbst auch auf: »Mit Freundlichkeit schaffen wir die Art von Nähe und Verbindung zu anderen Menschen, vor der uns bange ist und nach der wir uns zugleich sehnen … Durch Freundlichkeit, so kann man es sagen, wird das Leben lebenswert.«
Meine vier Jungen fanden den Gedanken, dass ihre Schwester Meredith nach Hause kommen würde, sehr aufregend. Sie fragten nicht, warum sie aus London zurückkam oder welche Veränderung in ihrem Leben eingetreten war. Nichts dergleichen. Alles, was sie wissen wollten, war, ob Meredith auch auf den Plan für das abendliche Tischabräumen gesetzt würde. Natürlich würde sie das. Nichts bringt einen Menschen so schnell wieder ins Gleichgewicht wie die Übernahme von Aufgaben und Pflichten. Am Freitagabend holte Jack Meredith und ihre zwei vollgestopften Koffer vom Flughafen ab. Wir richteten uns zusammen ein, alle sieben waren wieder zu Hause.
Von den Menschen in meiner Familie erwarte ich Freundlichkeit, Wärme und Hilfsbereitschaft. Unter den Kindern (und auch bei den Eltern) gibt es gelegentlich Streit, aber unser Zuhause ist der Ort, wo wir alle wir selbst sein können und genau dafür geliebt werden. Diese tiefe, bedingungslose Liebe macht die Familie zu einem Refugium und ihr Zuhause zu einem Ort, wo man Trost und Ruhe finden kann, sei es am Ende eines Schultages oder eines Arbeitstages – oder wenn ein Freund sich aus dem Staub macht und eine mit ihm geplante Zukunft zerschellt.
Auch außerhalb meiner Familie, so meine Erfahrung, ist Freundlichkeit zwischen Freunden, Bekannten und sogar Fremden eher die Regel als die Ausnahme. Nach dem Tod meiner Schwester wurde ich von allen Seiten mit Freundlichkeit bedacht. Menschen schrieben mir Karten, machten mir Essen, brachten mir Blumen. Meine Freundin Heather pflanzte in meinem Garten einen Fliederbusch an eine Stelle, wo ich ihn von der Küche aus sehen kann. Der Busch ist gewachsen und schmückt sich im Frühling mit dunklen, duftenden Dolden. Immer wenn ich die Blütendolden sehe, denke ich an Anne-Marie, und ich denke an Heather.
Ich bin mit Geschichten über Großzügigkeit und Anteilnahme aufgewachsen. Es gibt Familien, die laben sich an Geschichten von Mut und Tapferkeit, andere beziehen ihre Stärke aus einer Vergangenheit entbehrungsreicher Pionierarbeit. In meiner Familiengeschichte ist Freundlichkeit die größte Antriebskraft. Wir sprechen oft von der Familie aus Regensburg, deren drei Söhne im Krieg gefallen waren und die dann meinen Vater bei sich aufnahm. Oder von der Bevölkerung des Dorfes bei Antwerpen, wo meine Großmutter lebte, die gemeinsam dafür betete, dass dem Dorfarzt Penizillin gesandt würde. Innerhalb weniger Tage brachten amerikanische Soldaten das Medikament, und der sichere Tod eines Mannes, der einen Zahnabszess hatte, wurde abgewendet.
Es gab auch komische Geschichten. Als mein Vater klein war, gehörte es zu seinen Aufgaben, die Schafherde der Familie auf die Weide zu bringen. Als er einmal bei den Schafen draußen war, wurde er von einem streunenden Hund in die Wade gebissen. Es war ein kräftiger Biss, und die Wunde begann zu bluten. Eine alte Babuschka kam über die Weide zu ihm und bot ihre Hilfe an. Mein Vater war dankbar für ihr Angebot. Die Wunde tat weh
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