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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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verantwortlich für meine Reaktion auf den Tod meiner Schwester. Nachdem der Schock und die erste Trauerphase vorbei waren, konnte ich selbst entscheiden, wie ich mich verhalten wollte.
    Ich begann wieder, die Vorgänge am Strand wahrzunehmen. Nach einem Unfall beim Bodysurfen, der mit einem Besuch im Krankenhaus und zwanzig Stichen an der Lippe endete, hatte Michael einen gesunden Respekt vor Wellen und baute eine Sandburg, während Martin einen Burggraben mit einem Verbindungskanal zum Meer grub. Peter und Jack waren im Wasser beim Bodysurfen, und George saß neben mir und las. Marvin und Dorothy, die Frau, die er bald heiraten würde, machten einen Strandspaziergang.
    Peter kam vom Wasser angerannt. »Haben wir was zu trinken, Mom?«
    »Ich habe Hunger!«, rief Michael.
    Ich machte die Kühltasche auf und holte eine Flasche Wasser und Weintrauben heraus.
    »Wann gehen wir?«, fragte George, der sich nicht gerne zu lange in der Sonne oder der Hitze aufhielt.
    »Von mir aus jederzeit«, sagte ich.
    Jederzeit, alles war mir recht, ich allein bestimmte, wie ich auf die Welt um mich herum reagierte. Am Ende ist allein entscheidend, wie ein Mensch auf das reagiert, was das Leben ihm aufgibt, und nicht, was das Leben ihm aufgibt.
    Aber was ist mit dem, was das Leben einem nimmt? Wie sollte ich mit dem Verlust meiner Schwester leben? Wie sollte ich leben? Auch diese Antwort lag ganz in meiner Hand.
    Aus Krimis erfahre ich, dass es im Universum eine Ordnung gibt. Und daran glaube ich. Aber ein guter Krimi führt einem auch vor Augen, dass es auf manche Fragen einfach keine Antwort gibt. Wir alle sehen uns vor unerklärliche Dingen gestellt – Warum musste das geschehen?  –, die wir nie verstehen werden. Aber wir können Ordnung finden, und wir finden sie auch, in Büchern, bei unseren Freunden und unserer Familie. Wenn wir akzeptieren, dass es nicht auf alle Fragen eine Antwort gibt.
    An jenem sommersonnigen Nachmittag im August saß ich in meinem Liegestuhl und betrachtete das Bild vor mir. Das blaue Meer glitzerte. Die Kinder spielten in der Nähe im Sand, Jack ritt auf den Wellen, Marvin und Dorothy kamen über die Dünen zurück. Es ging mir nicht schlecht. Mein Lesejahr half mir aus der überwältigenden Trauer heraus und schuf eine solide Basis für einen Neuanfang.

19
Der Sinn der Freundlichkeit
Wenn wir aus Freundlichkeit handeln, zeigt das auf unmissverständliche Weise, dass wir verletzbare und fragile Wesen sind, die aufeinander angewiesen sind, um sich zu stützen.
ADAM PHILLIPS / BARBARA TAYLOR ,
On Kindness
      Anfang September rief meine Stieftochter Meredith aus London an. Acht Monate zuvor war sie nach England gezogen, aber die Hoffnungen, die sie in eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Freund gesetzt hatte, hatten sich zerschlagen. Frühmorgens, oder besser mitten in der Nacht auf einen Donnerstag, klingelte das Telefon. Es war Meredith. Sie weinte und war am Ende. Jack nahm den Hörer und sagte ihr, sie solle sich ins nächste Flugzeug setzen. Lautlos formte er ein »Okay?« mit den Lippen, und ich nickte.
    Was hätte ich sonst tun sollen? Wie sonst konnte ich auf Verzweiflung reagieren, wenn nicht mit Freundlichkeit und der Einladung, zu uns zu kommen, an einen Ort, wo sie sicher und geschützt leben konnte, solange sie wollte. Es ist mir ein spontanes Bedürfnis, einem Menschen, der traurig und verwirrt ist, Trost und Zuwendung anzubieten, so geringfügig dies auch sein mag. Ich konnte Merediths Problem nicht lösen. Aber ich konnte ihren Kummer auffangen und in schweren Zeiten für sie da sein.
    In der Graphic Novel Stitches erzählt der Autor David Small die Geschichte seiner Kindheit. Seine frühen Jahre mit einer depressiven Mutter und einem abwesenden Vater, die Sommer, die er bei einer psychotischen Großmutter verbrachte, waren von Gezänk, harten Worten und einem Mangel an Zärtlichkeit und Wärme geprägt. Die Strahlenbehandlung, die sein Vater ihm gegen seine Atemprobleme verschrieb, verursachten bei Small Kehlkopfkrebs, sodass er buchstäblich verstummte. Er wandte sich der bildenden Kunst zu und lernte, sich in seinen Zeichnungen auszudrücken. Seine Kunst bot ihm auch eine Zuflucht vor dem familiären Elend. Auf einer Seite in Stitches sehen wir, wie Small sich in einen Zeichenblock stürzt und in eine Welt gelangt, die er selbst geschaffen hat, eine Welt, die sicher ist und die außerhalb der Reichweite seiner Familie liegt.
    Small war schon ein Teenager, als ein Erwachsener endlich

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