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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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können. Und mir wurde klar, dass es noch etwas gab, das mich zu meinem Leseabenteuer motiviert hatte. Ich wollte wieder zu dem Ort zurück, wo ich mir meiner Träume sicher sein konnte. Der Geruch von Gras, der schwüle Himmel voller Sterne, der warme Luftzug an meiner Wange – all das war meinem Gedächtnis eingeschrieben. Die Erinnerungen umgaben mich wie ein Zaun, und ich fühlte mich darin geborgen. Ich war zehn Jahre alt, und meine ganze Zukunft wartete auf mich, eine Welt nur für mich. Oder ich war achtzehn und küsste jemanden unter dem blühenden Apfelbaum in der Gewissheit, dass es mein ganzes Leben lang immer diese Intensität des Sehnens und Wollens geben würde.
    Nachdem ich Schwärmer gelesen hatte, erzählte mir meine Mutter, dass Knut Hamsun einer der Lieblingsschriftsteller meines Großvaters gewesen sei. Das freute mich sehr. Jetzt hatten mein Großvater, den ich nicht gut gekannt hatte, aber sehr liebte, und ich Hamsun gemeinsam. Ich fragte mich, welchen Ausweg er bei Hamsun gesucht und gefunden hatte. Ich sah meinen Großvater in einem weißen Korbstuhl im Sonnenschein, vor ihm eine Gruppe frühlingsgrüner Bäume. Der Duft von weißem Flieder weht über die Wiese zu ihm hinüber. Nie hätte er sich vorstellen können, dass eine seiner Enkelinnen in einem nach Katzen riechenden lila Sessel in Connecticut Hamsun las, bei offenem Fenster, in der frischen Sommerluft. Zwei Leser, die von dem Ort und der Jahreszeit, wie sie in einem Buch beschrieben werden, fasziniert sind, aus unterschiedlichen Gründen, aber mit dem gleichen Ergebnis: einem Gefühl der Geborgenheit. Ein Ausweg, eine Auszeit, ein Wiederentdecken von Erinnerungen. Das Reisen musste nicht einsam sein. Ein Buch, das zwei lasen, war eine Reise in Gesellschaft.
    Selbst in Büchern, deren Geschichte nichts mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun hatte, fand ich ein Echo wiedergefundener Erinnerungen und einen Ausweg aus der Gegenwart. In Die Einsamkeit des Langstreckenläufers , einer Kurzgeschichte von Alan Sillitoe, wird ein Junge in eine Anstalt für Schwererziehbare und jugendliche Straftäter gesteckt. Der Junge, Smith, war ein Kleinkrimineller, der eine Bäckerei ausgeraubt und das Geld in der Regenrinne des baufälligen alten Hauses versteckt hatte, in dem er mit seiner Familie wohnte. Er hatte den Diebstahl begangen, weil er das kurze Hochgefühl wiederfinden wollte, das seine Familie bei dem Erhalt des Sterbegelds erlebt hatte, nachdem der Vater gestorben war: »Ich hab noch keine Familie gesehen, die so glücklich war wie wir in den zwei Monaten, als wir so viel Geld hatten, wie wir brauchten.« Als ein starker Regenguss das gestohlene Geld dem ermittelnden Polizisten direkt vor die Füße spült, wird Smith in die Anstalt geschickt.
    Aber das Leben in einer Erziehungsanstalt ist nicht nur schlecht. Smith wird für das Langstreckenlaufteam aufgestellt und trainiert für den landesweiten Wettkampf. Während seiner morgendlichen Laufstunden in der Natur ist er für sich und entkommt dem Alltag in der Anstalt. Das ist für ihn der beste Teil des Tages.
    Smith und ich hatten nichts gemeinsam, und doch wurde durch die Beschreibung seines morgendlichen Lauftrainings eine Erinnerung an einen Spaziergang in mir wach, den ich einmal machte, als ich Ende zwanzig war. Damals nahm ich an einer Umwelttagung in den Adirondacks teil und wohnte in einem Farmhaus, ungefähr drei Meilen vom Tagungsort entfernt. Nach dem ersten Tag der Konferenz kam ich, aufgeregt und voller Begeisterung für alles, was wir in den kommenden Monaten erreichen wollten, zurück zum Farmhaus.
    In der Nacht wurde es sehr kalt, und in dem ungeheizten Zimmer schlief ich schlecht. Nicht einmal, als ich mich in alle meine Kleider gewickelt hatte, wurde mir warm. Schließlich stand ich auf. Ich ging hinaus in die schwindende Dunkelheit, um mich herum die Luft eisig und still. Wenn mir schon kalt war, wollte ich lieber draußen sein und mich bewegen, statt in einem schmalen, harten Bett zu zittern.
    Während ich lief, hellte sich der Himmel über den fernen Bergen langsam auf. Vor mir ging die Sonne auf und verteilte ihr Licht in Streifen auf dem raureifweißen Gras. Der Kies unter meinen Schuhen knirschte wie Eiswürfel, Herbstgrashüpfer, von der Wärme belebt, hüpften vor mir auf dem Weg und leiteten mich. Ich ging weiter und nahm alles um mich herum ganz intensiv wahr. Das raureifschwere Gras, das in der Sonne funkelte. Das Gebüsch am Wegrand, durchsetzt von roten

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