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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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fragte T. aufrichtig erstaunt.
    »Wie – wo?«, versetzte Pobedonoszew hitzig. »Sehen Sie, Kai ist ein sterblicher Mensch aus einem Syllogismus. Er kann überhaupt nicht sterben, weil man in einem Syllogismus nicht stirbt. Folglich sind Syllogismen dummes Zeug und es ist Wahnsinn, sie zum Maßstab der Wahrheit zu machen. Wenn Sie dem nicht zustimmen, zeigen Sie mir einen toten Menschen aus einem Syllogismus. Zeigen Sie mir ein totes Subjekt, Graf, dann werde ich …«
    Während Pobedonoszew mit blitzenden Brillengläsern seine Tirade hielt, geschahen am Tisch einige wichtige Dinge.
    Sofroni richtete seinen riesigen Revolver auf T. Nikodim beugte sich vor. Ilarion faltete das Netz auseinander und legte es so zurecht, dass einer seiner Komplizen das andere Ende packen konnte.
    T. aber achtete nur auf den Revolver in Sofronis Hand. Kaum neigte sich der Lauf für einen Moment zur Seite, passierte etwas, womit keiner der Mönche gerechnet hatte – T. packte Dostojewski bei den Schultern und ließ sich eng umschlungen mit ihm in die schmale Lücke zwischen Tisch und Diwan fallen.
    »Achtung!«, schrie er.
    Pobedonoszew, der gerade über das tote Subjekt gesprochen hatte, hob seine Brillengläser zur Decke – dorthin, wohin die Bombe geflogen war, die T. geworfen hatte.
    Er kam nicht mehr dazu, zu Ende zu sprechen.

XIX
    »Man sagt: Er hat das Bewusstsein verloren. Wie merkwürdig … Immerhin, jemand verliert tatsächlich das Bewusstsein und findet es wieder. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber wer ist das? Wenn einer das Bewusstsein verliert, bedeutet das, er ist nicht das Bewusstsein, sondern etwas anderes. Im Übrigen sollte man nicht einem zufälligen Sinn hinterherjagen, der an den holprigen Nahtstellen der Wörter aufblitzt. Andererseits hingegen gibt es keinen anderen Sinn als den, der an den holprigen Nahtstellen der Worte erscheint, denn der ganze menschliche Sinn ist ebendieses Aufblitzen … Eine Sackgasse, schon wieder eine Sackgasse …«
    T. versuchte, eine Hand zu bewegen. Das ging.
    Mit den Gedanken kehrten auch die Empfindungen zurück – T. bemerkte Brandgeruch. In der Nähe schlug eine Uhr und das brachte ihn wieder zur Besinnung. Irgendetwas drückte schwer auf seine Schulter. T. drehte sich um und schlug die Augen auf.
    Die helle Sonne, die zum Fenster hereinschien, sprach dafür, dass es Morgen war. Offenbar etwa neun oder zehn Uhr. Als er die Hand hob, um die Augen abzuschirmen, sah T. die goldgelbe Seide seines Ärmels. Er trug noch immer den mit Quasten besetzten Morgenrock des Hotels, nur war dieser jetzt völlig verdreckt von Staub, Tünche und noch etwas anderem, das aussah wie Sauce.
    Allerdings befand T. sich nicht, wie er erwartet hätte, in seinem Zimmer im Hotel d’Europe.
    Es war die Wohnung von Pobedonoszew, derselbe Salon, in dem sie gestern Tee getrunken und über Syllogismen geredet hatten.
    T. erkannte, dass er am Boden lag und das schwere Porträt von Dostojewski umschlungen hielt – wie eine flache Decke, die ihn vor der Kälte der Zeitlosigkeit schützte. Er kroch unter dem Porträt hervor und musterte es eine Weile mit finsterem Blick.
    Das Porträt war an vielen Stellen beschädigt – es war übersät mit Spuren von Stößen und Schlägen, mit Flecken und Brandstellen, und dort, wo der Bart war, sah man deutlich einen Fußabdruck und die Leinwand war an der Stelle gerissen. An zwei Stellen war der Rahmen gebrochen, als hätte jemand versucht, das Bild zusammenzuklappen. Und doch gab es keinen Zweifel, dass es dasselbe Porträt war, das der Lama Dschambon ihm in sein Hotelzimmer gebracht hatte.
    Der Tisch war durch die Explosion umgekippt. Der Schrank mit den Vorhängen, der an der Wand gestanden hatte, war ebenfalls auf den Boden gekippt – darin hatte sich eine ganze Sammlung von Ikonen befunden, die nun auf dem Boden verstreut lagen. Das Antlitz auf den Ikonen war seltsam.
    Es war kein menschliches Antlitz, sondern das einer Katze.
    Sämtliche Darstellungen fußten auf einem bestimmten Kanon. Die Augen waren klein und schläfrig und schielten leicht, als würden sie einen Punkt unterhalb der Nase fixieren, was einen Eindruck finsterer Konzentration erzeugte. Der Kopf selbst, mit kurzem, grauem Fell bedeckt, war rund und unverhältnismäßig groß, wohingegen die dreieckigen Ohren unproportional klein erschienen.
    Ein Detail aber war auf jeder Ikone anders – die Schnurrbarthaare. Jede Katze hatte drei Paar, aber auf den alten, dunklen Ikonentafeln waren sie

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