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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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zackenförmig und sahen aus wie wütende schwarze Blitze, während sie auf den Ikonen neueren Typs wellenförmig waren und das Zeichen der Tilde wiederholten. Sicherlich standen hinter dieser Transformation Jahrhunderte von Disputen und Morden, über die ein Spezialist für Sekten und Irrlehren lange hätte erzählen können. Vielleicht auch Pobedonoszew selbst …
    Kaum dachte T. an Pobedonoszew, als er ihn auch schon erblickte. Der tote Oberprokurator lag neben einem umgekippten Sessel rücklings am Boden und starrte mit rußgeschwärzten Brillengläsern zur Decke.
    Die Mönche waren gleichfalls tot – sie lagen absurd verrenkt am Boden, in Pfützen von über Nacht geronnenem Blut. T. hatte auch dieses Mal nichts abbekommen, er hatte sich im toten Winkel befunden, genauso wie das Porträt von Dostojewski und ein Teil des Diwans.
    T. stand auf und krümmte sich vor Rückenschmerzen, aber die Knochen waren anscheinend alle heil geblieben. Im Salon breitete sich bereits ein süßlicher Verwesungsgeruch aus und T. humpelte eilig hinaus in den Korridor.
    Am anderen Ende des Korridors hockte ein winziges Kätzchen auf dem Boden. Bei T.s Anblick begann es zu miauen und verschwand um die Ecke – dort war offenbar die Küche.
    Die nächste Tür führte in Pobedonoszews Kabinett.
    Es war ein großes Zimmer mit einem massiven Schreibtisch, einem dunkelblauen Perserteppich und Bücherschränken an den Wänden. An einer Stelle hing ein weißer Vorhang an der Wand, aber dort konnte kein Fenster sein. T. zog den Vorhang zurück.
    Dieser verbarg ein in die Wand eingemauertes Mosaik im byzantinischen Stil, eine Kopie oder ein Original, das man hierhergebracht hatte: eine riesige pantokratische Katze mit runden, schläfrigen Augen, unauffälligen dreieckigen Ohren, archaisch-blitzförmigen Schnurrbarthaaren und winzigen, griechischen Buchstaben an den Rändern des runden Antlitzes. Der Hermaphrodit hatte die rechte Pfote erhoben, mit der linken stützte er sich auf einen massiven Folianten mit dem goldenen Wort » JCHW « 62 auf dem Einband.
    Dem Schreibtisch direkt gegenüber stand ein barock aussehender Kleiderschrank mit Spiegel – er war wohl mit Absicht so aufgestellt, dass derjenige, der am Schreibtisch saß, ständig sein Spiegelbild im Blick hatte. T. überlegte, der Schrank könnte ein Geheimnis bergen, zum Beispiel einen versteckten Ausgang aus der Wohnung. Er trat näher und zog die Tür auf.
    Im Schrank war kein Geheimausgang. Stattdessen hingen darin ein paar bauschige, geschmacklose Frauenkleider von der Art, wie sie alternde Kokotten zu tragen pflegten. Es roch wie in den Versen des Dichters Bunin – nach einem alten, längst verflogenen Parfüm, von dessen Duft nur noch ein schwerer, abgestandener Moschusgeruch in der Luft hing.
    T. schloss die Schranktür, ging zum Fenster und spähte vorsichtig nach draußen. Es war ein klarer Petersburger Morgen, die Sonne schien, Beamte und arbeitendes Volk liefen umher, Kutschen fuhren vorbei, Vögel zogen ihre Kreise am Himmel. Allein der Anblick dieses geordneten, bequemen Lebens enthielt einen Vorwurf – er schien den Beobachter aufzufordern, die Beobachtung unverzüglich einzustellen, sich an die Arbeit zu machen und mit der Landschaft zu verschmelzen.
    T. ging zum Tisch.
    Darüber hing ein Käfig mit einem (wie T. zunächst vermutete) ausgestopften Kanarienvogel. Doch bei genauerer Betrachtung erwies sich der Vogel als lebendig. Das war allerdings nur am Funkeln der Augen zu erkennen. Der Vogel saß völlig reglos, versteinert vor Kummer, oder vielleicht auch vor Schreck, weil er nicht wusste, was von dem Eindringling zu erwarten war. T. blinzelte ihm zu und setzte sich in den Schreibtischsessel.
    Auf dem Tisch schimmerte der Phonograph vor Nickel und Stahl, und aus einem Drahtbecher ragten spitze Buntstifte. Links von der Schreibgarnitur stand ein Telefonapparat neuester Konstruktion und rechts, unter einem modernen Briefbeschwerer in Form einer silbernen Pfote, lag ein Stoß mit gleichmäßiger Handschrift beschriebenen Papiers (in der linken oberen Ecke waren auf jedem Blatt in Gold die Buchstaben » OPHS « 63 eingeprägt).
    T. nahm den Briefbeschwerer von dem Papierstapel. Es gab keinerlei Korrekturen oder durchgestrichene Stellen, als hätte der Schreiber den Text von einer vor ihm hängenden Schrifttafel abgeschrieben. T. nahm die erste Seite und las:
    Der äußere Zyklus. Prolegomena zur Praxis
    »Sodomitische Sünde und Religiöse Erfahrung«
    anfangen: Dem

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