Tolstois Albtraum - Roman
Menschen ist es eigen zu sündigen und zu bereuen. Es ist ihm eigen, sich dem Laster zu ergeben und nach Befreiung von ihm zu streben. Worin also liegt der Sinn der Leiden – oder dessen, was die Katholiken in ihrem Irrglauben als Fegefeuer bezeichnen? Einzig darin, dass sich die sündigen Teile der Seele von ihrem Licht lösen. Wenn der Mensch in seinem Leben nach Maßgabe seiner Kräfte selbst gegen die Sünde gekämpft hat, werden die Leiden für ihn keine Strafe sein, sondern eine segensreiche Hilfe zum Sieg über das, was er zu Lebzeiten nicht bewältigen konnte.
überleiten: Was sind dann moderne Sekten, die nicht die Leiden, sondern die Sodomie anerkennen und den Sodomisten gestatten, ein geistliches Amt auszuüben? Diese Frage teilt sich in verschiedene Probleme, die der Reihe nach untersucht werden sollen.
erstens: Kann ein Sodomit ein religiöser Mensch sein? Die Erfahrung aus der Geschichte zeigt, dass eine solche Möglichkeit gegeben ist. Man kann hoffen, dass der Herr in seiner unendlichen Barmherzigkeit das Gebet eines Sünders nicht verschmäht, wenn dessen seelischer Impuls aufrichtig ist und sein Wesen in den Minuten erfasst, wenn es frei von Sünde ist.
zweitens: Man kann sogar davon ausgehen, dass ein heimlicher Sünder den Gottesdienst ausüben kann, wenn er seiner Sünde nicht offen frönt und Gott nicht als Sodomit dient, sondern als Mensch, der sich seiner Unvollkommenheit und seiner schweren Krankheit deutlich bewusst ist. Zudem wird ein solcher Mensch eingedenk seiner eigenen Sünde weniger geneigt sein, andere zu verurteilen.
abschließen: Die neuesten sektiererischen Tendenzen aber gehen gerade dahin, dass die Sodomiten dem Herrn nicht als reuige Sünder, sondern als Sodomiten zu dienen wünschen. Das heißt, sie wollen ihr Gebet nicht aus den Tiefen ihrer durch die eigene Unvollkommenheit betrübten Seele darbringen, sondern direkt aus der hinteren Öffnung, in der gleichzeitig Beelzebubs Horn steckt … Quo vadis?
Als T. das »Quo vadis« sah, verdüsterte sich seine Miene.
Er erinnerte sich plötzlich an den »qui pro quo«-Ausspruch des Pferdes. Natürlich gab es da nicht viele Gemeinsamkeiten. Aber dennoch: In beiden Fällen wurde Latein benutzt und beide Male in Verbindung mit einem Sündenfall, nur war es beim letzten Mal ein fleischlicher, realer Sündenfall, und dieses Mal war es der Geist, der einen Blick in den Abgrund tat. Diese Ähnlichkeit konnte nur eines bedeuten …
»Mitjenka?« T. erstarrte. »Kann das sein? Möglich wäre es. Die Päderastie, das Gesäß, Beelzebubs Horn … Schließlich ist das sein Verantwortungsbereich, wie Ariel erklärt hat. Und gestern haben die Mönche von Axinja gesprochen. Für Axinja ist auch Mitjenka zuständig. Also er? Undenkbar. Aber woher wäre sonst Axinja aufgetaucht? Stopp … Das bedeutet aber …«
Um sich nicht in diesen unerträglichen Gedanken zu verbeißen, begann T., die Papiere auf dem Schreibtisch durchzublättern. Dabei stieß er auf ein paar geöffnete Briefe. In zweien dieser Briefe ging es um unklare Geldabrechnungen. Der dritte lautete wie folgt:
An Seine Exzellenz O . P . S . S.
Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew,
dienstlich
Hiermit übersende ich Eurer Exzellenz die Übersetzung der altägyptischen Inschrift auf dem Stück Blattgold, das im Rahmen der Ermittlung in Sachen Graf T. in dem Medaillon bei der Leiche von Vater Warsonofi Netrebko gefunden wurde.
Nach Meinung von Spezialisten des Ägyptischen Museums erlaubt die Form der Hieroglyphen eine Datierung des Textes auf die Epoche der XVIII . Dynastie oder wenig später. Die Inschrift lautet:
»Der geheime Name des Hermaphroditen mit dem Katzenkopf, der Macht über ihn verleiht, ist AGNS 64 . Wenn du den Hermaphroditen mit Hilfe dieses Namens lenken kannst, ist das sehr gut.«
Die Übersetzer betonen, dass AGNS ebenso übersetzt werden kann wie das traditionelle BHGW 65 (oder auch anders, je nachdem, welche Konkordanzliste man für die Hieroglyphenverzeichnisse benutzt). Das Medaillon selbst aber kann Eurer Exzellenz ungeachtet Ihres Antrags nicht übergeben werden, da es auf Befehl übergeordneter Instanzen der Akte des Grafen T. beigefügt wurde.
Ausgeführt:
Ober-Exekutor P. Skoworodkin
Am Rand des Dokuments war mit Bleistift vermerkt:
Schon wieder Olsufjew!! Idioten, konnten nicht einmal die Leichen durchsuchen!
Ansonsten befand sich auf dem Schreibtisch nichts von Interesse. T. beschloss, die Schubladen zu untersuchen. In der mittleren lag
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