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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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als wäre eine der antiken Statuen vom Schiff der Fürstin Tarakanowa Fleisch geworden und nun vor ihm erschienen.
    »Eine Mähne, sagst du?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Damit kann ich dienen …«
    »Sie flunkern bestimmt, Herr«, kicherte Axinja.
    »Nein, gewiss nicht. Fahr mal zu diesem Gehölz da drüben. Ich zeige sie dir …«
    * * *
    Mit der Stirn gegen eine Birke gelehnt versuchte T. schwer atmend, die letzten Reste von Trunkenheit abzuschütteln. Aber es gelang nicht – im Gegenteil, der Rausch wurde immer schwerer und dumpfer. Bittere Reue über das, was nur Augenblicke zuvor geschehen war, erfüllte seine Seele.
    »Ein richtiger Löwe«, sagte Axinja, die auf dem Wagen lag, mit vergnügter Stimme. »Und wie hoch er springen kann …«
    »Wie kann das sein?«, überlegte T. »Warum ist unsere Seele so eingerichtet? Warum verwandeln wir uns im Handumdrehen aus einem Engel, der an der Himmelspforte auf Einlass wartet, in einen lüsternen Dämon, der nur eines fürchtet – dass er den Becher der schändlichen Lust nicht bis zur Neige austrinken, auch nur einen Tropfen daraus versäumen könnte. Und das Schlimmste, das Erstaunlichste ist, dass es keine Nahtstelle gibt, keine erkennbare Grenze zwischen diesen Zuständen, und dass wir genauso leicht und selbstverständlich vom einen Zustand in den anderen wechseln, wie wir vom Salon in den Speisesaal gehen. Man könnte tatsächlich dem Gefasel der verstorbenen Fürstin glauben …«
    »Und was für Krallen an den Füßen«, murmelte Axinja. »Ein richtiger Löwe …«
    »Du würdest dich besser in Ordnung bringen«, bemerkte T. trocken.
    »Gefall ich Ihnen nicht mehr?«, fragte Axinja beleidigt. »Das war vorhin aber noch ganz anders …«
    T. wollte schon zu einer nüchternen Erwiderung ansetzen, aber als er sie ansah, stockte er. In ihrer himmlischen Rüstung von Jugend und Schönheit erschien ihm Axinja wie eine antike Göttin, eine ewige Himmelsbewohnerin, die auf die Erde herabgestiegen war, die Menschensöhne zu verführen und ihnen den Tod zu bringen. Sie war umgeben von einem flirrenden, durchscheinenden, regenbogenfarbenen Dunstschleier, der ihre überirdische Natur gleichsam verstärkte.
    Auch den Wagen und selbst das mit dem Schwanz um sich schlagende Pferd umgab eine solche durchscheinende Aureole – offenbar brachen sich die schrägen Sonnenstrahlen eigentümlich an der feuchten Waldluft.
    Axinja lächelte verschlagen und T. erkannte voller Entsetzen, dass er sie noch einmal wollte und dass er sich diesem Gefühl, wenn es ihn im nächsten Moment von Neuem überschwemmte, nicht würde widersetzen können.
    »Ich kann dem nicht Herr werden«, dachte er. »Wie heißt es im Evangelium? Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. 18 … Wahrhaftig …«
    T. löste seine feuchte Stirn von der Birke; er taumelte, ging zum Wagen und fragte Axinja, ohne sie anzusehen:
    »Hör mal, ich habe hier doch ein Beil gesehen. Wo ist es?«
    »Da.« Axinja wies mit dem Kopf auf den aus dem Heu ragenden Griff und wurde blass. »Wozu brauchst du das Beil? Führst du etwas im Schilde?«
    T. gab keine Antwort und packte das Beil.
    Axinja kreischte auf, sprang vom Wagen und rannte in den Wald. Sie bewegte sich leicht und geschmeidig, als würde sie schwimmen, und kam dabei sehr schnell vorwärts. Bald war sie zwischen den Baumstämmen nicht mehr zu erkennen.
    »Hübsch ist sie«, dachte T., »und flink dazu, selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht einholen. Aber gleich kommt sie wieder, das weiß ich. Ich spüre es mit allen Fasern, mit meiner Sündhaftigkeit selbst … Dann fängt es von Neuem an … Was soll ich tun? Abhacken und nicht lange zögern …«
    Er presste den Zeigefinger gegen die graue Seitenwand des Wagens, hob das Beil, nahm Maß und erlebte plötzlich etwas Unvorstellbares.
    Das Pferd, das gerade eben noch seine Lippen zum Gras hinuntergestreckt hatte, hob das Maul, blickte ihn mit einem magischen purpurroten Auge an und sagte laut und deutlich:
    »Nicht den Finger muss man abhacken, Herr.«
    T. ließ vor Überraschung das Beil fallen.
    »Was?«, fragte er. »Was hast du … Was haben Sie gesagt?«
    »Ganz richtig, Herr. Der Finger hat nichts damit zu tun«, sagte das Pferd leise, als befürchtete es, dass jemand mithören könnte. »Hier muss man nicht den Finger abhacken, sondern sich mit dem kleinen Siegel vervollkommnen. 19 Die stinkenden Testikel abschneiden. Diese Strafe

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