Tolstois Albtraum - Roman
wäre der Schwere der Verfehlung angemessen.«
Mit diesen Worten drehte das Pferd den Kopf weg und begann wieder, Gras zu rupfen.
»Sag das noch mal«, bat T. »Sag das noch mal, was du da gesagt hast.«
Aber das Pferd rupfte sein Gras, ohne T. auch nur zu beachten, und T. schien nachgerade, er sei einer Halluzination erlegen. Der Verdacht wurde rasch zur Gewissheit – und T. begriff überhaupt nicht mehr, wie er ernsthaft hatte überlegen können, ob das Pferd mit ihm gesprochen hatte oder nicht.
»Das ist unvernünftig«, dachte er. »Ich sollte nicht so viel trinken. Haben sie mir im Hotel vielleicht etwas in den Wodka gemischt? Allerdings ist es noch nicht lange her, da habe ich es für möglich gehalten, dass ich tot bin und meine Seele eine Läuterung durchmacht … Jetzt komme ich aber vom Hölzchen aufs Stöckchen. Schnell zu Ariel, dort gehen wir der Sache auf den Grund …«
T. wandte sich dem Wald zu.
»Axinja!«, rief er. »Ich muss ins Hotel! Komm raus!«
»Nein, Herr!«, ließ sich Axinja vernehmen. »Sonst machen Sie mich mit dem Beil tot.«
»Ich werde dich nicht anrühren! Ganz sicher nicht!«
»Und wieso hast du das Beil genommen?«
T. runzelte die Stirn ob der idiotischen Situation.
»Ich wollte mir den Finger abhacken«, rief er. »Dir wollte ich nichts tun!«
»Warum das denn?«
»Um mich vor dem Bösen zu hüten!«
Axinja schwieg eine Weile – wahrscheinlich überlegte sie.
»Wieso, was machst du denn mit dem Finger?«, rief sie schließlich.
T. spürte, wie sich sein Gesicht mit heißer Schamesröte überzog.
»Du redest schon genauso wie das Pferd!«, rief er. »Dumme Trine!«
»Na und?«, rief Axinja zur Antwort. »Ich war eben nicht auf dem Lyzeum!«
»Hör auf mit dem Theater!«
»Wenn Sie schimpfen, lauf ich noch weiter weg«, krähte es zur Antwort.
T. verlor die Geduld.
»Nun komm schon raus, hab keine Angst!«
»Nein, Herr, fahren Sie mal selbst«, ließ Axinja sich vernehmen. »Ich komm den Wagen besser im Hotel abholen, wenn Ihre Marotten vorüber sind.«
Sosehr T. das Pferd auch antrieb, es zockelte nur langsam dahin und fiel immer erst nach einem ordentlichen Klaps für kurze Zeit vom Schritt in einen trägen Trab. Dabei blickte es sich jedes Mal um und starrte ihn durchdringend an – als wollte es ihm zu verstehen geben, dass ihr Meinungsaustausch im Wald über moralische Fragen dieses Pferdefuhrwerksverhältnis, das T. so beharrlich wiederherzustellen versuchte, unangebracht, ja beleidigend machte.
Allerdings genierte T. sich ohnehin schon genug.
»Ich habe diese heilige Frau gekränkt, diese junge Arbeiterin«, dachte er. »Ich habe ihr in die Seele gespuckt … Obwohl ich nicht verstehe, was genau sie so verschreckt hat. Ich kenne mich mit der Seele des Volkes doch ganz und gar nicht aus, ich tue nur so, als ob. Ich darf mich nicht so betrinken. So weit ist es gekommen – ein Pferd, das zu sprechen anfängt … Nicht nur das, es hat mich auch noch ausgelacht. Und vollkommen zu Recht …«
»Natürlich zu Recht«, sagte das Pferd plötzlich und blickte sich um. »Den Finger abhacken, Graf, das ist das reinste Qui pro quo.«
T. erstarrte.
»Jetzt geht das schon wieder los«, dachte er. »Gleich dreht es sich um und sagt nichts mehr, als wäre nichts gewesen …«
Aber das Pferd trottete weiter und blickte T. dabei immer noch an.
»Qui pro quo?«, fragte T. nach. »Was ist das?«
»Wenn man das eine mit dem anderen verwechselt«, antwortete das Pferd.
Es war völlig unmöglich, das Gespräch für eine Sinnestäuschung zu halten. Das alles geschah tatsächlich.
»Zugegeben, ich bin schwach in Latein«, sagte T. im Versuch, die Fassung zu bewahren. »In der Jugend konnte ich es, aber jetzt habe ich alles vergessen.«
» Qui ist das Pronomen wer «, erläuterte das Pferd, »und quo ist die veraltete Form, aber im Dativ.«
»Besten Dank«, sagte T. »Ich glaube, so langsam fällt es mir wieder ein.«
»Das Latein ist hier nicht so wichtig«, fuhr das Pferd fort. »Wichtig ist das Wesen der Sache. Sie haben vorhin das Evangelium erwähnt, also überlegen Sie, worum es dort eigentlich geht. Zunächst muss man ganz nüchtern feststellen, welches Glied Sie verführt – der Fuß, die Hand, das Auge, das Ohr … Der Apostel hat deswegen nichts Konkretes genannt, weil die Hellenen in dieser Hinsicht sehr erfinderisch waren. In einigen Apokryphen ist sogar präzise formuliert, dass man zuallererst genau überlegen muss, ob es das eigene Glied ist, das
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