Tolstois Albtraum - Roman
diesem Spuk mal auf den Grund gehen. Und zwar sofort …«
Die Passanten musterten den angetrunkenen Oberst der Gendarmerie argwöhnisch. Der Oberst, das muss man sagen, gab dazu auch allen Anlass.
Er überquerte die Straße und trat zu einem stutzerhaft gekleideten Herrn mit Melone, der, einen Spazierstock unter die Achsel geklemmt, am Eingang eines Restaurants stand und die Geldscheine in seiner Brieftasche zählte.
»Guten Tag, gnädiger Herr«, sagte T. und legte mit einem diabolischen Lächeln die Hand an seine Schirmmütze. »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Kaufmannsvorsteher Raspljujew«, antwortete der Herr mit Melone erschrocken.
»Na so was!«, sagte T. »Der Kaufmannsvorsteher. Aber in einem Aufzug, als wollte er nach Paris zur Weltausstellung. Warum das?«
Der Herr mit Melone versuchte, ein höfliches europäisches Befremden aufzusetzen, doch es gelang ihm nicht so recht – das Gefühl, das sich auf seinem glattrasierten Gesicht spiegelte, sah vielmehr aus wie Angst, und es war sofort klar, dass die Angst der eigentliche Ausdruck dieses Gesichts war und nun vor Überraschung durch sämtliche Schichten mimischer Maskierung hindurch zum Vorschein kam.
»Gewiss doch«, sagte er. »Der Fortschritt, Euer Wohlgeboren, hält auch in unserem Krähwinkel Einzug. Warum sollten wir uns nicht schön anziehen …«
»Weißt du eigentlich, Kaufmannsvorsteher Raspljujew«, sagte T. und drohte dem rasierten Herrn mit der Faust, »dass du in Wahrheit gar kein Kaufmannsvorsteher bist, sondern eine Null? Ja, nicht einmal eine Null, sondern eine absolute Nichtigkeit. Auch wenn du in all diese englischen Stoffe gekleidet bist, mein Bester, existierst du doch nur zum Spaß und nur so lange, wie ich mit dir plaudere … Kannst du das verstehen?«
Der Kaufmannsvorsteher lief rot an und grinste.
»Was meinen Sie denn damit, gestatten Sie die Frage – zum Spaß? Heißt das, ich bin Ihrer Meinung nach in Wahrheit eine Leerstelle?«
»Du bist nicht mal eine Leerstelle«, erwiderte T. »Ich kann dir mit Worten nicht erklären, was für eine Null du bist. Wenn ich aufhöre, mit dir zu reden, du Kakerlakenkauz, und etwas anderes mache, dann verschwindest du zusammen mit deiner Melone und deinem Spazierstock unwiederbringlich und für alle Ewigkeit. Glaubst du mir nicht?«
Das Gesicht des Kaufmannsvorstehers war puterrot angelaufen.
»Meinetwegen können wir das gleich ausprobieren«, sagte er. »Ich habe keinerlei Einwände, wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, Ihre Drohung unverzüglich in die Tat umzusetzen.«
Auf der Vortreppe des Restaurants drängten sich bereits einige langhaarige Herrschaften, die aus der Gaststube herangetreten waren und aussahen wie Rasnotschinzen; 14 T. vernahm die Worte »Grobiane« und »Henker«, die zwar mit einem vorsichtigen Flüstern, aber dennoch mit Nachdruck ausgesprochen wurden.
»Ach«, T. winkte ab. »Geh doch zum Teufel, mein Bester. Leb wohl, ein für alle Mal.«
Er ließ Raspljujew stehen, ging schräg über die Straße und spürte plötzlich, dass ihn jemand aufmerksam beobachtete. Er drehte sich um.
Auf der anderen Straßenseite ging schleppend ein älterer, trauriger Jude in einem langen Kaftan. Auf seiner Nase prangte eine große, behaarte Warze. T. überquerte wieder die Straße und ging neben ihm her. Nach einiger Zeit fragte der Jude:
»Verfolgen Sie mich, Herr Offizier?«
»Ich gehe nur neben Ihnen her«, erwiderte T.
»Und warum?«, fragte der Jude.
T. fing an zu lachen. Der Jude war sofort gekränkt.
»Wieso lachen Sie denn?«, fragte er.
»Weil Sie komisch sind. Sie stellen komische Fragen.«
»Was ist denn daran komisch?«
»Ich gehe neben Ihnen her, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, diesen Tag ein wenig zu genießen. Frische Luft zu schöpfen und sich am Spiel von Sonnenlicht und Schatten zu erfreuen.«
»Wollen Sie damit sagen, ich würde ersticken und erblinden, wenn Sie mich in Ruhe ließen?«
»Ganz ohne Frage«, sagte T. »Ersticken, erblinden, ertauben, den Geruchssinn und den Tastsinn verlieren und aufhören, Ihren traurigen Gedanken nachzuhängen.«
»Woher wissen Sie, dass sie traurig sind?«
»Das sieht man am Gesicht«, sagte T. »Und überhaupt sage ich so etwas nicht nur so dahin.«
»Sie mögen wohl die Juden nicht?«, fragte der Jude.
»Nicht doch, mein Bester«, versetzte T. »Ganz im Gegenteil. Aber unser Schöpfer …«
»Was?«, fragte der Jude argwöhnisch. »Was ist mit dem Schöpfer?«
»Bei ihm bin ich mir nicht so
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