Tolstois Albtraum - Roman
an.«
Auf dem Gesicht des Imperators malte sich Verwunderung.
»Ist es wahrhaftig so schlimm? Was genau ist denn der Grund für Ihre heftige Reaktion?«
»Das fragen Sie noch?«, rief T. »Vielleicht verstehen Sie es wirklich nicht. Das alles ist ekelhaft – die fleischliche Sünde, die Trunkenheit, die Hirngespinste. Am schlimmsten aber ist Unglaubwürdigkeit, die vulgäre, übertriebene Komik. Als sollte ich zur Belustigung der Bauern auf dem Jahrmarkt auftreten …«
»Die Sache ist die«, sagte Ariel verlegen, »ich bin offen gestanden noch nicht dazugekommen, mich mit dem letzten Kapitel vertraut zu machen.«
»Mit dem letzten Kapitel vertraut zu machen? Wovon reden Sie? Es ist doch Ihr Manuskript! Oder weiß die linke Hälfte Ihres Kopfes nicht, was die rechte tut?«
»Es ist nicht alles so simpel, wie es Ihnen scheint«, antwortete Ariel. »Sie haben ja keine Ahnung, wie man im einundzwanzigsten Jahrhundert Manuskripte schreibt.«
»Was kann sich da schon groß geändert haben?«
»Sehr viel sogar. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel, Graf.«
»Aus Ihnen wird man nicht schlau«, sagte T. »Erst das kleine und das große Siegel, jetzt Brief und Siegel. Erst das sprechende Pferd, dann Paul der Erste.«
»Ich verstehe Sie überhaupt nicht«, beschwerte sich der Imperator. »Was für ein sprechendes Pferd? Wenn Sie gestatten, nehme ich einen kurzen Time-out . Ich möchte herausfinden, was Sie so … ehem … auf die Palme gebracht hat.«
Das Gesicht auf dem Porträt erstarrte wieder zu einer leblosen, stupsnasigen Maske. T. goss sich mechanisch den Rest Wodka aus der Karaffe ein und hob das Glas zum Mund, doch der Geruch des Alkohols ließ ihn schaudern und er schüttete den Inhalt des Glases voller Abscheu in den schwarzen Schlund des Kamins.
»Mir scheint, ich bekomme mein Nervenzittern«, dachte er, »das Augenlid zuckt so …«
Bald darauf ertönte von der Wand her ein höfliches Räuspern.
T. hob den Blick zum Porträt. Der Imperator sah verlegen aus.
»So«, sagte er. »Nun ist alles klar.«
»Ich verlange rückhaltlose Aufklärung«, sagte T. »Schleichen Sie nicht wie die Katze um den heißen Brei herum. Erklären Sie mir endlich, wer ich bin und was das alles zu bedeuten hat.«
»Das habe ich doch schon angedeutet«, erwiderte Ariel.
»Dann erklären Sie es eben noch einmal. Und zwar so, dass ich es verstehe.«
»Meinetwegen. Sie sind ein Held.«
»Danke bestens«, schnaubte T. »Der schnurrbärtige Herr im Zug hat mir auch so ein Kompliment gemacht und dann hat er mehrmals versucht, mich umzubringen.«
»Alle Helden weigern sich, diese Neuigkeit zu akzeptieren«, bemerkte Ariel betrübt. »Sogar wenn es längst keine Neuigkeit mehr ist. Eine Art Abwehrmechanismus, es ist immer das Gleiche …«
»Wovon reden Sie?«
»Sie sind der Held einer Erzählung, Graf. Man könnte Sie einen literarischen Helden nennen, aber es bestehen ernsthafte Zweifel daran, dass der Text, dem Sie ihr Erscheinen verdanken, die Bezeichnung Literatur für sich beanspruchen kann. Ich versuche, es Ihnen so gut wie möglich zu erläutern …«
T. wurde plötzlich schwindlig und es kam ihm vor, als stünde er auf der Oberfläche eines riesigen Blatts Papier, wo er bald in einzelne, über die weiße Fläche verstreute Buchstaben zerfiel und bald aus dem Buchstabengewimmel wieder auftauchte. Intuitiv schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der ganze Spuk ein Ende haben würde, wenn die Buchstaben sich zu einem wichtigen Wort zusammensetzten – er kannte dieses Wort aber nicht … Das Erlebnis war nur flüchtig, aber eindringlich und unheimlich wie ein Albtraum, den man jede Nacht hat und jeden Morgen wieder vergisst.
Ariel verzog sein Gesicht zu einer mitfühlenden Grimasse.
»Das ist Ihnen unangenehm«, sagte er, »weil Sie sich zweifelsohne ganz andere Vorstellungen über Ihr Wesen gemacht haben. Aber genau so verhält es sich nun einmal.«
»Sie haben behauptet, ich sei nicht Ihre Erfindung.«
»Das ist vollkommen richtig. Wie ich schon sagte, Ihr entfernter Prototyp ist der Schriftsteller Lew Tolstoi. Aber in allem Übrigen sind Sie einfach eine Figur der Erzählung, genauso wie Knopf und die Fürstin Tarakanowa. Im Augenblick nehme ich mit Hilfe der schon erwähnten kabbalistischen Prozedur Kontakt zu Ihnen auf.«
»Aber Sie deuteten an … Sie sprachen von der Vergeltung, die einem Schriftsteller nach seinem Tode auferlegt wird. Und Sie ließen durchblicken, dass ich eine solche Strafe
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