Tolstois Albtraum - Roman
meine Strafe … Aber auch meine Hoffnung. Denn das, was ich durchmache, ist nur die Läuterung, die meine Seele vor dem Aufstieg in diese blaugoldene Klarheit durchmachen muss … Dafür gibt es viele Beweise – allein, dass ich auf diesem Wagen liege und diese leuchtend blauen Streifen sehe, ist ein Beweis dafür, dass ich dort Einlass finde … Sonst wäre es allzu grausam und erbarmungslos, das kann nicht sein, die Seele weiß es … Ja …«
»Ruhen Sie sich ein bisschen aus, Herr?«
T. drehte sich nach der Stimme um.
Vor dem Wagen stand ein liebreizendes Bauernmädchen von etwa zwanzig Jahren, ein Kind fast noch, mit einem Schopf dunkelblonder Haare unter dem Kopftuch und einem rührend zarten Hals über dem Ausschnitt des roten Sarafans.
»Ganz richtig, liebes Kind«, erwiderte T.
»Aber ich muss jetzt weiterfahren, Herr.«
»Hör mal«, sagte T. zu seinem eigenen Erstaunen, »weißt du nicht vielleicht, wo Optina Pustyn ist?«
»Aber sicher. Das ist für mich am Weg.«
Einen Moment lang lichtete sich der Rausch in T.s Kopf.
»Kannst du mich nicht bis dahin mitnehmen? Du bekommst auch eine Belohnung …«
»Na so was, gleich eine Belohnung!« Das Mädchen fing an zu lachen. »Bis nach Optina Pustyn bring ich Sie nicht, aber ich kann Sie in der Nähe absetzen.«
»Also los«, entgegnete T. »Wir werden uns schon einig.«
Der Wagen setzte sich in Bewegung. T. hatte das Mädchen noch fragen wollen, was das eigentlich sei, dieses Optina Pustyn, aber nach kurzem Überlegen beschloss er, es zu lassen: Am Ende stünde er da wie der dumme Kerl aus dem Märchen, der nach Ich-weiß-nicht-wo geht. 15
»Wenn wir ankommen, sehen wir weiter. Es ist schon erstaunlich, wie märchenhaft einfach … Aber wer sagt denn, dass das Leben kompliziert sein muss?«
Über ihm schwankte der Himmel, eingerahmt von den vorbeiziehenden Dächern. Hin und wieder beugten sich bärtige, von einer Schirmmütze beschattete Gesichter in diesen Rahmen, sie warfen einen scheuen Blick auf T. und verschwanden dann hastig aus seinem Blickfeld. T. beachtete sie gar nicht – er beobachtete das blaugoldene Geflimmer des Himmels (wenn er sich ein klein wenig angestrengt hätte, hätte er es nicht nur über sich, sondern auch vor sich sehen können) und schlief unmerklich ein. Als er erwachte, wurde der Himmel nicht mehr von Dächern, sondern von Bäumen gesäumt.
Es war wohl ungefähr eine Stunde vergangen. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, die Luft war jetzt kühler und klarer und roch nach dem Staub der Landstraße, nach Wiesengräsern und nach etwas anderem, das ganz eigen, warm und angenehm erregend war. T. erkannte den Geruch von Heu, vermischt mit dem Duft des jungen Frauenkörpers.
»Sind Sie wach, Herr?«, rief das Mädchen.
Auf die Ellbogen gestützt, blickte T. um sich.
Der Weg lief an einem Weizenfeld entlang, auf der anderen Seite schimmerte grün der nahe Wald.
»Da drüben liegt Optina Pustyn«, sagte das Mädchen mit einer Handbewegung zum Wald hin. »Vielleicht zwei Werst zu Fuß quer durch den Wald. Selber war ich noch nicht da, hab’s nur gehört.«
»Kannst du nicht näher hinfahren?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die Bewegung war sehr energisch; T. schien es, das Mädchen sei ein wenig blass geworden.
»Warum denn nicht?«, fragte er.
»Es ist unheimlich«, erwiderte das Mädchen und bekreuzigte sich.
T. blickte ein paar Sekunden in die unermessliche grüne Tiefe des Waldes, drehte sich dann um und sah zum Weizenfeld hinüber.
Aus dem Weizen erhob sich eine Vogelscheuche, in schwarze Lumpen gehüllt, die dürren, kraftlosen Stöcke ihrer Arme ausgebreitet zu einer Umarmung mit der Ewigkeit – ein Déjà-vu, dachte T., das hatten wir doch erst kürzlich, im Zug. Er sah wieder das Mädchen an.
»Wie heißt du?«
»Axinja«, erwiderte das Mädchen. »Und Sie?«
T. verspürte plötzlich das unüberwindliche Bedürfnis, sich für den Schriftsteller auszugeben, von dem Ariel gesprochen hatte.
»Tolstoi«, sagte er. »Lew Tolstoi.«
Das Mädchen prustete in die Faust.
»Sagen Sie bloß!«, bemerkte sie verlegen. »Dabei sind Sie gar nicht dick 16 . Sie sind doch mager. Und dann noch ein Löwe 17 , na so was! Löwen haben doch eine Mähne!«
T. blickte in ihre grünen Augen und empfand ein jähes, schamloses und vollkommenes Einvernehmen mit diesem fröhlichen jungen Wesen. Axinja lächelte – und in diesem Lächeln lag so viel Schönheit, Weisheit und unbesiegbare Stärke, dass es T. vorkam,
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