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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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sicher«, bemerkte T. sanft. »Ich habe den Verdacht, dass er die Juden nicht besonders leiden kann.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Ich hatte ein paar Mal mit ihm zu tun. Ganz im Vertrauen, es ärgert ihn furchtbar, dass er einen jüdischen Namen hat. Die Leute halten ihn häufig für einen Juden, es gab schon allerlei dumme Probleme deshalb. Jetzt rächt er sich dafür an euresgleichen – nicht so ganz ernst natürlich, aber dennoch. Die Warze da auf Ihrer Nase zum Beispiel, dafür gibt es ja einen Grund, haben Sie nicht schon nächtelang darüber nachgegrübelt?«
    »Sie hatten mit dem Schöpfer zu tun?«, fragte der Jude mit hochgezogenen Brauen. »Sie wollen mir weismachen, der Schöpfer unterhält sich mit einem Oberst der Gendarmerie?«
    »Nicht nur das«, versetzte T. »Sie existieren nur zu dem Zweck, damit dieser Oberst der Gendarmerie jemanden zum Reden hat.«
    »Das hat der Schöpfer Ihnen gesagt?«
    T. nickte lebhaft.
    »Warum sind Sie so sicher, dass es der Schöpfer war?«, fragte der Jude. »Haben Sie ihn auch richtig angeschaut?«
    »Und wie. Ich stand genauso dicht neben ihm wie jetzt neben Ihnen.«
    »Wissen Sie«, versetzte der Jude, »wenn Sie so etwas sagen, möchte man so weit weg von Ihnen sein wie von hier bis Berditschew. Könnten Sie mich bitte in Ruhe lassen?«
    »Sicher, nichts leichter als das«, sagte T. »Aber dann ist es vorbei mit Ihnen, für nichts und wieder nichts. Und zwar sofort und für immer.«
    »Dann ist das eben mein Schicksal«, sagte der Jude. »Sie brauchen sich darüber nicht zu grämen.«
    Er lüpfte höflich seinen Hut, beschleunigte den Schritt und verschwand in einem Torweg, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Ein paar Sekunden lang blickte T. ihm hinterher. Er schwankte ein wenig und dachte:
    »Ein ständiger Abschied von Menschen und Gegenständen. Aber muss man sich so betrinken? Im Übrigen bleibt es noch festzustellen, wer hier betrunken ist. Die Leute um mich herum zum Beispiel, sind die etwa nüchtern? Nun ja, sie riechen nicht nach Wodka. Sie torkeln nicht herum, gehen ihren Geschäften nach. Aber ist das Nüchternheit? Kann man davon ausgehen, dass Telegrafenmasten nüchtern sind? Alle diese Kaufmannsvorsteher haben ebenso viel Bedeutung wie die Telegrafenmasten oder die Wolken am Himmel. Sogar weniger, denn die Wolken anzuschauen ist viel interessanter, als diese Ölgötzen zu betrachten, die Ariel mir immer schickt …«
    T. blickte sich nach allen Seiten um. Neben einem niedrigen gelben Haus mit dem halbrunden, blauroten Aushängeschild »Getreidebeschaffung Kurpatow und Co.« stand ein Wagen, der voll beladen war mit frischem Heu – er sah genau so aus wie das Fahrzeug, das ihn nach Kowrow gebracht hatte (Ariel zog es offenbar vor, nicht unnötigerweise neue Wesen zu erschaffen). Es war niemand in der Nähe. Ohne lange nachzudenken, ging T. zu dem Wagen, ließ sich ins Heu fallen und starrte nach oben.
    Der Himmel über der Stadt war von einem grauen Dunstschleier verhangen, durchzogen von ein paar Streifen Blau. Darin erschien hin und wieder die Sonne. Mühelos konnte man die Welt aber auch anders sehen – ein paar blaue Wolken am grauen Himmel. In einer dieser Wolken schwappte ein blendender goldener Glanz; hin und wieder brach ein gelber Lichtstrahl daraus hervor und fiel auf die Stadt. Dann wanderten dieser Strahl und dieser Glanz weiter zu einer anderen blauen Wolke.
    »In diesen blauen Wolken wohnt Gott«, dachte T., während er auf einer Roggenähre kaute. »Wir schauen aus unserer Hölle in die himmlische Herrlichkeit und sinnieren über das Unergründliche … Aber wir werden es nie verstehen, denn selbst diese blauen Wolken am grauen Himmel, die wir so deutlich sehen, sind in Wirklichkeit keine Wolken, denn es ist alles genau umgekehrt …«
    Das vor den Wagen gespannte Pferd wieherte unruhig und schlug mehrmals mit dem Schwanz über seine glatte, fahle Kruppe, um die Fliegen zu verscheuchen. Die Roggenähre hatte einen eigenartigen Geschmack. T. zog sie aus dem Mund und entdeckte zwischen den Grannen purpurrotes Mutterkorn.
    »Ariel hat gesagt, ich würde die endgültige Wahrheit bei unserer nächsten Begegnung erfahren. Aber mir scheint, ich kenne sie schon. Offenbar ist alles, was mir geschieht, die Strafe für irgendeine Sünde. Deshalb habe ich auch mein Gedächtnis verloren. Man hat es mir genommen und der Macht eines kabbalistischen Dämons überlassen, der jetzt mit qualvollen Schüben von Wahnsinn über mich herfällt. Das ist

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