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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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verbüße.«
    »Keineswegs! Ich habe lediglich wiedergegeben, was mein Großvater über das Wesen literarischer Figuren gesagt hat. Ich habe keine Ahnung, ob er recht hatte oder nicht. Aber selbst wenn, kann der verstorbene Graf Tolstoi ebenso gut auch Knopf oder einer der Amazonas-Mörder sein.«
    Ariel wartete einen Moment und als er feststellte, dass T. nichts weiter sagen wollte, fuhr er fort:
    »Gestatten Sie, meine Entschuldigung vorzubringen für das, was in meiner Abwesenheit passiert ist. Das war alles Mitjenka. Wenn ich ehrlich bin – ich habe nicht genug aufgepasst.«
    »Was reden Sie da für einen Unsinn?«, fragte T. »Was für ein Mitjenka, zum Teufel?«
    »Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll«, seufzte Ariel. »Ich hatte gehofft, das Gespräch mit der Fürstin Tarakanowa hätte Sie auf die Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Obwohl man sich natürlich auf so etwas nur schwer vorbereiten kann.«
    »Heraus mit der Sprache.«
    Der Imperator auf dem Porträt schloss die Augen, überlegte eine Weile und suchte nach Worten.
    »Sagen Sie«, fing er dann an, »haben Sie jemals von der Turingmaschine gehört?«
    »Nein. Was ist das?«
    »Ein Begriff aus der Mathematik. Das ist eine Rechenvorrichtung, auf deren Funktion sich sämtliche menschlichen Berechnungen zurückführen lassen. Vereinfacht gesagt, ist es so: Ein Lese- und Schreibkopf bewegt sich über ein Papierband, liest die Zeichen auf dem Band und bringt nach ganz bestimmten Regeln andere Zeichen darauf an.«
    »Naturwissenschaft ist nicht gerade meine starke Seite.«
    »Stellen Sie sich vor, ein Streckenwärter geht die Bahngeleise ab. Auf den Eisenbahnschwellen sind mit Kreide bestimmte Zeichen angebracht. Der Streckenwärter prüft diese Zeichen auf einer speziellen Konkordanzliste, die er von seinen Vorgesetzten bekommen hat, und schreibt die entsprechenden Buchstaben oder Wörter aus der Liste auf die Geleise.«
    »So ist es einfacher«, sagte T. »Obwohl ich ja vermute, dass diese Streckenwärter für die ganzen Entgleisungen verantwortlich sind.«
    »Einen Schriftsteller«, fuhr Ariel fort, »kann man als Turingmaschine betrachten – oder eben, was auf das Gleiche hinausläuft, als Streckenwärter. Verstehen Sie, es geht nur um diese Konkordanzliste, die der Streckenwärter in der Hand hat. Denn die Zeichen auf den Eisenbahnschwellen ändern sich praktisch nicht. Die Lebenswahrnehmungen sind zu allen Zeiten gleich – der Himmel ist blau, das Gras ist grün, die Leute sind Abschaum, wenn auch mit angenehmen Ausnahmen. Aber die Ausgangs-Reihenfolge der Buchstaben ist in jedem Jahrhundert eine andere. Und zwar deshalb, weil sich die Konkordanzliste der Turingmaschine ändert.«
    »Und wie?«
    »Genau das ist der Punkt! Zu Ihrer Zeit nahm ein Schriftsteller, bildlich gesprochen, die Tränen der Welt in sich auf und schuf einen Text, der die menschliche Seele zutiefst berührte. Den Menschen damals gefiel es, dass man sie auf dem Weg von der Semstwo-Versammlung 20 in die Katorga 21 sozusagen seelisch an die Hand nahm. Dabei ließen sie sich das nicht nur von Personen des geistlichen Standes oder aus aristokratischen Kreisen gefallen, sondern von jedem x-beliebigen Parvenu mit fragwürdiger Metrik. Heute aber, ein Jahrhundert später, ist die Konkordanzliste eine ganz andere. Von einem Schriftsteller erwartet man, dass er Lebenswahrnehmungen in einen Text verwandelt, der maximalen Gewinn erzielt. Verstehen Sie? Literarisches Schaffen ist heute die Kunst der Ausarbeitung von Buchstabenkombinationen, die sich möglichst gut verkaufen lassen. Das ist auch eine Art Kabbala. Nur nicht die, die mein Großvater praktizierte.«
    »Wollen Sie damit sagen, der Schriftsteller ist zum Kabbalisten geworden?«
    »Der Schriftsteller, mein Freund, hat damit überhaupt gar nichts zu tun. Mit dieser Markt-Kabbalistik beschäftigen sich die Marktforscher. Der Schriftsteller muss lediglich die Gesetze dieser Kabbalistik in der Praxis anwenden. Das Komischste aber ist, dass die Marktforscher in der Regel Vollidioten sind. In Wirklichkeit haben sie nämlich keine Ahnung, welche Buchstabenkombination der Markt verlangt und warum. Sie tun nur so.«
    »Das ist ja entsetzlich, was Sie da erzählen«, murmelte T. »Marktforscher … Und der Autor geht auf alle ihre Forderungen ein?«
    »Den Begriff des Autors im früheren Sinne gibt es nicht mehr. Romane werden heutzutage gewöhnlich von ganzen Teams von Spezialisten geschrieben, bei denen jeder für einen

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