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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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mit Gewalt darauf herum. Die Brille knirschte und ein dünner Wasserstrahl spritzte heraus.
    »Was machen Sie da?«, fragte Dostojewski finster. »Das ist Gotteslästerung …«
    »Dafür gibt es keine toten Seelen mehr«, antwortete T.
    Dostojewski grinste düster.
    »Sie sind kindisch, Graf«, bemerkte er. »Kinder denken so – man muss nur die Uhr kaputtmachen, dann bleibt die Zeit stehen. Was meinen Sie denn, was es jetzt gibt?«
    »Wenn Sie es wissen wollen, Fjodor Michailowitsch, dann erzähle ich es Ihnen.«
    T. stand auf und begann, die über der Brustwehr aufragenden Tannenzweige abzubrechen, wobei er versuchte, solche zu nehmen, an denen kein Spielzeug hing.
    »Wir müssen ein Feuer machen«, sagte er. »Es ist eine lange Geschichte … Also, Fjodor Michailowitsch, alles fing damit an, dass ich in einem Zug saß. Ich trug eine violette Kutte und in meinem Abteil saß mir gegenüber ein Herr von überaus liebenswürdigem Aussehen. Ich wusste nicht, woher ich kam und wohin ich fuhr, ich konnte mich nicht einmal erinnern, wie ich in dieses Zugabteil geraten war – aber ich fand es irgendwie gar nicht verwunderlich. Mit einem Mal knüpfte mein Reisegefährte ein höchst sonderbares Gespräch mit mir an …
    Als T. zu Ende gesprochen hatte, schimmerte zwischen den Häusern bereits ein bläulicher Streifen der Morgendämmerung. Das Feuer war längst heruntergebrannt, und Dostojewski kratzte seinen Bart und blickte düster in die graue Asche. Dann hob er den Kopf und sagte:
    »Aber Ihrer Erzählung nach bin ich tot.«
    »Wieso?«, wunderte sich T.
    »Na, der Bauer, der Sie auf seinem Fuhrwerk mitgenommen hat nach Petersburg, hat Ihnen doch gesagt, dass ich gestorben bin. Also bin ich eine tote Seele.«
    »Tot sind Sie nur in der Welt, aus der ich komme, Fjodor Michailowitsch. Aber die Welt, in der wir jetzt sind, existiert ausschließlich für Sie und Ihretwegen. Wie können Sie denn tot sein, wenn die Sonne aufgeht? Sehen Sie doch nur.«
    Dostojewski blickte in die ferne Morgenröte.
    »Aber wozu dann die Grenzen verteidigen und an das Volkswohl denken? Wenn wir doch alle nur Gladiatoren im Zirkus sind?«
    »Ein sehr schöner Vergleich«, versetzte T. »Das ist mir gar nicht eingefallen. Besser kann man es nicht sagen.«
    »Und dieser Zirkus wird von grausamen, launischen Göttern geleitet? Wir leiden und kämpfen nur, damit sie ihren Spaß haben?«
    »Schlimmer«, sagte T. »Würden wir nur existieren, damit sie ihren Spaß haben, dann läge darin eine absurde Erhabenheit. Die Herrlichkeit der Sinnlosigkeit. Nein, wir leben, damit sie sich ernähren können. Wir sind so etwas wie die Kaninchen, die ein pensionierter Kollegienassessor züchtet, um sich etwas nebenbei zu verdienen.«
    »Warum müssen die Götter etwas nebenbei verdienen? Sie sind doch Götter!«
    »Götter sind sie nur für uns. In ihrer eigenen Dimension aber sind sie ziemlich bedauernswerte Wesen. Zumindest kam es mir so vor.«
    »Aber warum spricht der Schöpfer nie mit mir? Oder mit den anderen? Warum spricht er nur mit Ihnen? Weil er Ihnen den Vorzug gibt?«
    T. überlegte kurz.
    »Ich weiß nicht«, sagte er dann. »Von einer besonderen Zuneigung habe ich nichts bemerkt, eher im Gegenteil. Vielleicht braucht er einen Zeugen, um seine Allmacht zu genießen. Und mit allen anderen spricht er einfach deshalb nie, weil er im Grunde genommen ein Verbrecher ist. Er schämt sich, vor seinen leidenden Geschöpfen zu erscheinen, denn ihr Leben ist eben sein Verbrechen. Außerdem ist er nicht allein. Es ist eine ganze Bande, die Übrigen reden nur nicht mit mir. Aber ich fühle sie, und wie …«
    »Das ist ja grauenhaft!«, sagte Dostojewski.
    »Sie wollten die Wahrheit? Dann beklagen Sie sich nicht. Das erklärt jedenfalls, warum Sie in dieser hässlichen, brutalen Behelfshölle leben, über die Sie nicht einmal richtig nachdenken dürfen.«
    »Das stimmt nicht«, widersprach Dostojewski. »Denken darf ich, was ich will. Entscheiden auch. Mein Wille ist frei.«
    »Das scheint nur so«, erwiderte T. »Das, was Sie für Ihre Gedanken halten, sind in Wahrheit die Stimmen Ihrer Schöpfer, die in Ihrem Kopf erklingen und jeden Ihrer Schritte kontrollieren. Alle Entscheidungen treffen sie.«
    »Aber wie können ihre Gedanken in meinem Kopf entstehen?«
    »Indem Ihre Schöpfer sie entstehen lassen, Fjodor Michailowitsch. Ihr Kopf ist nur der Form halber Ihr Kopf. In Wirklichkeit ist er ein Fußball, mit dem diese Schöpfer ihre entsetzlichen Spiele

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