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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ein anderer Name für das Gelobte Land.«
    »Und womit hat sich diese Gesellschaft befasst?«
    »Optina Pustyn zu suchen. Unter der Leitung des Herrn Solowjow. Ein sehr origineller Zeitgenosse. Er vertrat ganz ähnliche Theorien wie Sie.«
    »Nämlich welche?«
    Dostojewski runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern.
    »Im Großen und Ganzen die reinste Irrlehre. Eine Art patentierte Abkürzung, um in den Himmel zu kommen – das Übliche bei diesen Herrschaften. Seine Lehre bestand darin, dass der Mensch sich in einer mystischen Handlung teilen muss in ein Buch und seinen Leser. Das Buch sind alle Regungen unseres Geistes, alle Hochs und Tiefs, alle unsere Gedanken, Ängste und Hoffnungen. Solowjow verglich das alles mit einem abstrusen, schrecklichen Roman, den ein Irrer mit Maske schreibt, unser böser Genius – und wir können uns von diesen schwarzen Seiten nicht losreißen. Aber anstatt sie Tag für Tag durchzublättern, muss man den Leser finden. Mit ihm zu verschmelzen ist das höchste geistige Ziel.«
    »Moment … Moment mal«, sagte T. »Ich muss mal kurz überlegen. Ein Irrer mit Maske … Stimmt genau.«
    »Ich fand das zu Anfang auch interessant«, grinste Dostojewski. »Aber tatsächlich ist das nur leeres Geschwätz eines Phrasendreschers. Schöne Worte, die zu nichts führen, sondern nur die Seele verwirren und in Versuchung bringen. Genau darüber habe ich auch geschrieben.«
    »Und wo ist Solowjow jetzt?«
    »Das weiß keiner so genau. Höchstwahrscheinlich irgendwo dort verschwunden.«
    Dostojewski machte eine Handbewegung gen Westen.
    »Erinnern Sie sich noch an etwas anderes?«
    Dostojewski schüttelte den Kopf.
    »Den Vortrag habe ich geschrieben, als die Eindrücke noch ganz frisch waren«, sagte er. »Aber inzwischen habe ich das längst vergessen … Wenn es Sie interessiert – ich nehme an, Pobedonoszew wüsste noch etwas.«
    »Pobedonoszew?«, fragte T. verwundert. »Ist der etwa auch hier?«
    Dostojewski warf T. einen erstaunten Blick zu.
    »Wo soll er denn sein, mein Freund, wenn nicht in Petersburg?«
    »Auch wieder wahr«, stimmte T. zu. »Und inwiefern hat er mit dieser Frage zu tun?«
    »Ganz unmittelbar. Er ist der größte Spezialist für Irrlehren und überhaupt ein kluger Mann. Der Einzige, der bei geistigen Gebrechen helfen kann. Denken Sie nur nicht, dass ich mir dabei um Sie Sorgen mache … Ich rede von meinem eigenen gelben Leuchten. Wenn der Oberprokurator betet, erhört der Herr mich vielleicht. Ich glaube jedenfalls, dass er Ihnen bestimmt etwas sagen kann.«
    »Ist es weit?«
    »Ungefähr eine Werst«, sagte Dostojewski. »Wir gehen besser durch die Kanalisation.«
    »Warum das denn?«
    »Sonst kommen wir nicht vorwärts. Auf der Straße sind doch die toten Seelen.«
    »Und wie kommen wir in die Kanalisation?«
    Dostojewski stand auf, rückte die Patronenkiste ein Stück zur Seite und schob die Lumpen darunter weg, und T. erblickte eine dreckige gusseiserne Luke mit einem doppelköpfigen Adler und ein paar Zahlen darauf.

XVIII
    Mit Dostojewski ging unterwegs eine seltsame Veränderung vor sich.
    Zu Anfang war er gesprächig und erzählte T. vom heiligen Starez Fjodor Kusmitsch. Der hatte irgendwo in der Nähe gewohnt, in den unterirdischen Katakomben, aber wo, wusste niemand, und ihm unter der Erde zu begegnen galt als großes Glück. Die einen behaupteten, Fjodor Kusmitsch sei ein einfacher Mann aus dem Volk, ein Bauer. Die anderen glaubten, er sei früher der doppelköpfige Imperator Peterpaul gewesen, habe sich aber nach dem großen Kirchenstreit einen Kopf abgehauen und fortan als Einsiedler gelebt – aber welcher Kopf es war, der liberale oder der Hardliner-Kopf, habe man nicht offenbart, um das Volk nicht zu beunruhigen, und so glaubte jeder, was er wollte. Der Starez lehrte, die Rus sei eine ins Paradies schwimmende Eisscholle, auf der die Juden Feuer machten und mit den Füßen stampften, damit sie brechen und das ganze Volk ertrinken solle, während für die Juden rings um die Eisscholle herum Boote warteten. Außerdem war Fjodor Kusmitsch ein großer Beter – die Leute glaubten, wenn man mit ihm zusammen für etwas betete, werde der Wunsch sicher in Erfüllung gehen.
    Aber je weiter die graue, übelriechende Kanalisationsröhre führte, desto mürrischer wurde Dostojewski. Bald verstummte er ganz und ging nun, die Laterne in der Hand, allein voraus und leuchtete den Weg. Obwohl T. sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte er den Stimmungswechsel

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