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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Unbekannte blieb in zehn Schritt Entfernung stehen.
    »Guten Tag, Fjodor Michailowitsch!«
    Dostojewski machte große Augen.
    »Woher wissen Sie, dass ich Fjodor Michailowitsch bin, gnädiger Herr?«
    »Aber ich bitte Sie! So ein eleganter Herr mit einer Zweihandaxt. Wer anders könnte das sein als der berühmte Dostojewski?«
    »Zum Beispiel ein Zimmermann«, sagte Dostojewski. »Oder ein Fleischer, ha-ha … Und wer sind Sie?«
    »Schwierige Frage«, erwiderte der Mann im Morgenrock. »Normalerweise nennt man mich Graf T.«
    »Na, sieh mal an!«, versetzte Dostojewski mit mildem Sarkasmus. »Graf T., so so … Ich habe Sie mir aber ganz anders vorgestellt.«
    »Und wie?«
    »So wie man Graf T. üblicherweise darstellt. Mit Strohhut und zwei Revolvern.«
    »Das war früher so«, erwiderte T. »Heute ist alles anders. Sie können es so sehen, dass ich aus dem Jenseits zurückgekehrt bin.«
    »Ein Zombie«, dachte Dostojewski stirnrunzelnd. »Und er gibt es selbst zu, das kommt selten vor. Aber es gibt keinen Zweifel.«
    »Ach ja?«, sagte er. »Und was hat Sie veranlasst, eine so beschwerliche Reise zu unternehmen?«
    »Mein Interesse an Ihnen, Fjodor Michailowitsch.«
    »Sie heucheln, Graf«, brummte Dostojewski. »Bestimmt haben Sie noch ganz andere Absichten.«
    »Möglich«, sagte T. zustimmend.
    Dostojewski umrundete T. langsam von links her, um ihm den Rückzug abzuschneiden.
    »Also so einer sind Sie«, gurrte er freundlich. »Wissen Sie, es ist gut, dass wir uns kennenlernen. Mich hat schon immer interessiert, ob die Kampfkunst des Grafen T. meiner Axt lange standhalten kann. Aber bisher konnte ich das nicht erproben …«
    T. lächelte.
    »Ich habe allerdings auch einiges über Sie gehört, Fjodor Michailowitsch. Manche halten Sie sogar für unbesiegbar. Vielleicht gibt es in diesem Städtchen wirklich niemanden, der Ihnen ebenbürtig ist … Ich stehe zu Ihren Diensten.«
    Dostojewski verbeugte sich, knöpfte bedächtig seine Jacke auf, warf sie ab und stand im schwarzen Hemd da. Daraufhin verneigte er sich, die Axt im Rücken haltend, bis zum Boden, als sei ihm die vorherige Verbeugung nicht tief genug gewesen.
    T. neigte zur Antwort höflich den Kopf.
    »Der Idiot!«, 55 stieß Dostojewski hervor.
    »Wie bitte?« T. zog befremdet die Augenbrauen hoch.
    Mit Dostojewski ging eine merkwürdige Veränderung vor sich. Er starrte auf ein zusammengeknülltes Papier, das der Wind links von T. über den Fahrdamm blies, und in seiner Miene zeigte sich ein Interesse, das sich schnell zu einem Ausdruck von Benachteiligung und Gier auswuchs. Er machte einen Schritt auf das Papier zu, beugte sich hinunter, um es aufzuheben, stolperte unbeholfen und schwenkte die Axt, um das Gleichgewicht zu halten – und in der nächsten Sekunde sauste die Klinge pfeifend an der Stelle vorbei, wo gerade eben noch der Kopf von T. gewesen war, der sich im letzten Moment hatte bücken können.
    Dostojewski machte rasch einen Schritt zur Seite, presste die Axt an die Brust, schloss die Augen und sagte:
    »Bobok!« 56
    Daraufhin kippte er wie eine hölzerne Statue der Länge nach hintüber.
    T. wartete ab, was passieren würde. Es geschah aber nichts weiter: Dostojewski lag auf dem Rücken, die Axt an sich gedrückt und seinen Bart, an dem der Wind zauste, gen Himmel gereckt.
    T. wartete eine oder zwei Minuten ab und rief dann:
    »Fjodor Michailowitsch!«
    Dostojewski gab keine Antwort.
    »Haben Sie sich wehgetan? Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie es!«
    Dostojewski gab keinen Laut von sich. Er sah aus wie ein greiser Wikinger, der auf einem Leichenboot in die Ewigkeit fuhr – nur war das Leichenboot die ganze Stadt ringsum.
    T. machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu.
    »Fjodor Michailowitsch!«
    Die Klinge rauschte an der Stelle vorbei, wo einen Augenblick zuvor T.s Beine gewesen waren – wie beim letzten Mal hatte er der Wurflinie der Axt gerade noch ausweichen können. Der heftige Schwung schien alle Gesetze der Physik zu brechen: Es war unbegreiflich, wie es Dostojewski gelungen war, aus völliger Reglosigkeit in atemberaubende Schnelligkeit zu wechseln.
    Mit Hilfe des Schwungs gelang es Dostojewski, wieder auf die Beine zu springen. Er schob die Axt hinter den Rücken, drehte T. die offene Handfläche zu und rief erneut:
    »Der Idiot!«
    Sofort schien er T. wieder aus dem Blick zu verlieren. Er machte einige unsichere Schritte, hob den Blick, und auf seiner Miene malte sich ein Schrecken ab, als hätte er am Himmel etwas

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