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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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seines Begleiters an dessen gebücktem Rücken, der sich weiter und weiter vorbeugte. Aber T. kümmerte sich nicht darum. Er war viel zu beschäftigt mit dem, was er vorhin über den Leser und das Buch gehört hatte: Die Worte kamen ihm erst jetzt so richtig zu Bewusstsein und begannen, in seinem Kopf zu kreisen.
    An der feuchten Wand der Röhre stand alle paar Meter immer wieder das gleiche Graffito – drei Zeilen, mit verschiedenen Farben und in unterschiedlicher Schrift untereinander geschrieben, wie mit einer dreifarbigen Schriftschablone angebracht:
    59
    Die Zeile über Gott war weiß, die über Nietzsche blau und Wasja Pupkins Sinnspruch war rot. T. überflog die Zeilen und stellte sich zuerst Jehova aus Michelangelos Sixtinischen Fresken vor, dann den müden Nietzsche als eine Art durch Leiden geadelten Maxim Gorki und schließlich den flachsblonden Wasja, den arroganten Erben der Weisheit von Jahrhunderten, beängstigend und zugleich wunderschön in seinem gleichgültigen Maximalismus.
    Doch der Gedanke, der T. keine Ruhe ließ, galt nicht ihnen.
    »Natürlich«, dachte er. »Wie konnte ich das bisher nur übersehen? Es macht keinen Unterschied, wie viele Autoren es sind. Bei diesem Graffito zum Beispiel gibt es drei. Und dennoch wird Gott ebenso wie Nietzsche und Wasja von demjenigen erschaffen, der es liest. Bei mir ist es genauso. Wer auch immer sich all das ausdenkt, was ich für mich selbst halte – damit ich in Erscheinung treten kann, erfordert es zwangsläufig einen Leser. Er wird für kurze Zeit ich, und ich bin nur durch ihn … Ich bin …«
    Offenbar hatte T. laut vor sich hingemurmelt, denn Dostojewski drehte sich um. T. machte eine beschwichtigende Handbewegung und Dostojewski ging weiter.
    »Ich bin … Stopp. Das ist eine Falle. Ariel sagte doch, das untrügliche Gefühl ›Ich bin‹ empfände nicht ich, sondern er. Ich habe ihm zugestimmt, weil es sich ganz logisch anhörte – immerhin ist er mein Autor. Und jetzt kommt heraus, dass nicht er dieses Gefühl empfindet, sondern irgendein Leser. Stimmt auch wieder … Bedeutet das also, dass ich, wer auch immer ich bin, sowieso nicht ich bin? Nein, so was! … In einem hat Ariel recht – das Naheliegendste kann sich leicht als optische Täuschung erweisen …«
    Unter den Füßen knirschte hin und wieder Glas, der Boden war übersät mit Flaschensplittern.
    »Aber wer hat nun das Gefühl ›Ich bin‹? Fangen wir ganz von Anfang an. Offenbar ist es so: Als Ariel mich erschuf, hatte er dieses Gefühl, und dann … Der Leser? Vermutlich. Aber der Leser war doch immer ich! Wie ist das möglich, dass ich bin, dass ich aber nichts damit zu tun habe?«
    Eine Ratte kam ihm entgegengerannt, dann noch zwei. Es kam T. so vor, als wären die Tiere von einem schwachen grünlichen Glimmen umgeben, wie mit Leuchtphosphor eingerieben. Dostojewski beachtete die Ratten gar nicht.
    »Andererseits – den Leser in sich selbst finden. Wie interessant … So ungewöhnlich. Und so exakt und tiefgründig! Eine bemerkenswerte Metapher. Wirklich, was passiert, wenn ich diesen Dreizeiler über Nietzsche lese? Sofort habe ich sein müdes Kriegsmarine-Gesicht vor Augen … Kriegsmarine, weil er einen gewaltigen Schnurrbart hat – wie eine Bugwelle – und in die Ewigkeit zieht, ein Schlachtschiff des Geistes … Und doch hat dieser Nietzsche, den ich mit meinem inneren Blick so detailliert schildere, keinerlei Vorstellung davon, dass ich sein Schöpfer bin … Obwohl es ihn ohne mich einfach nicht gäbe …«
    »Wir sind gleich da«, sagte Dostojewski und drehte sich um.
    T. schien die Miene seines Begleiters nun geradezu feindlich und finster zu sein – aber das lag vermutlich nur an dem harten Schatten der Laterne. Sie bogen in einen Nebengang des Tunnels ein, wo es warm und feucht war und sie auf einer dünnen Schicht Schimmel oder Moos liefen.
    »Den Leser kann man nicht sehen«, dachte T. »Ich werde ihn nie entdecken können, genauso wie der Nietzsche aus dem Graffito sich meiner nie bewusst sein wird – es sei denn, ich zwinge ihn in meiner Fantasie dazu … Aber was bedeutet es dann, Leser zu werden? Verstehe ich nicht. Offenbar hat diese Entdeckung keinerlei praktischen Sinn – sie ist einfach ein Gedankenspiel …«
    »Ja, alles durch unsere Schuld«, brummte Dostojewski plötzlich, als hätte T.s angestrengt arbeitendes Denken ihn berührt. »Man begräbt die Toten und bemerkt nicht, wie man selbst einer von ihnen wird. Dabei hieß es doch … Um die

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