Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
aufgeben müssen.
Wenn aber jemals ein Ehepaar dieses Vergnügen gekostet hat, so genossen es auch jetzt in aller seiner Fülle der Kapitän und seine Gemahlin. Bei ihnen beiden war's beständig eine hinlängliche Ursache, auf einer Meinung hartnäckig zu bestehen, wenn der andre vorher nur das Gegenteil geäußert hatte. Sie liebten oder haßten, lobten oder tadelten niemals eine und dieselbe Person. Und weil der Kapitän den Findling nicht mit günstigen Augen betrachtete, [80] so war dies Ursache genug, daß seine Ehegenossin anfing, ihm fast ebensosehr zu liebkosen als ihr eigen Kind.
Der Leser wird leicht begreifen, daß diese Aufführung zwischen Gemahl und Gemahlin eben nicht sonderlich beitrug, Herrn Alwerth sein Leben angenehm zu machen, weil die heitere Glückseligkeit, die er sich von dieser Verbindung für alle drei verheißen hatte, so wenig dadurch befördert wurde. Die Wahrheit aber ist, daß, obschon er sich wohl ein wenig in seinen Hoffnungen und Erwartungen getäuscht finden mochte, er doch bei weitem das ganze Spiel nicht übersehen konnte. Denn sowie der Kapitän, aus sehr in die Augen fallenden Gründen, in Alwerths Gegenwart ungemein auf seiner Hut war, so sah sich auch die Dame, aus Furcht ihrem Bruder zu mißfallen, ebenfalls genötigt, dieselbe Aufführung zu beobachten. Kurz, es ist für eine dritte Person möglich, mit einem verheirateten Paare sehr gut bekannt zu sein, ja sogar eine ziemliche Weile mit ihm in einem Hause zu wohnen, ohne daß, wenn es nur einige Weltklugheit besitzt, sie seine wahren Gesinnungen gegen einander nur mutmaßen könne. Denn obgleich der ganze lange Tag sowohl für den Haß, als für die Liebe zuweilen zu kurz fallen mag, so geben doch die manchen Stunden, die sie allein ohne Beobachter hinbringen, für Leute von nur einiger Mäßigkeit, so reichliche Gelegenheit an die Hand, jede von diesen Leidenschaften zu befriedigen, daß, wenn sie sich lieben, sie wohl ein paar Stunden in Gesellschaft sein können, ohne mit einander zu tändeln, oder wenn sie sich hassen, ohne einander ins Gesicht zu fahren.
Unterdessen ist es doch möglich, daß Alwerth genug sah, um ihn ein wenig unruhig zu machen, denn man muß nicht allemal schließen, ein weiser Mann fühle nichts, wenn er nicht so klagt und winselt, wie andre Leute von einem kindischen oder weibischen Gemüte. In der That aber ist es möglich, daß er einige Fehler an dem Kapitän entdeckte, ohne sich im geringsten darüber zu beunruhigen, denn Menschen wahrer Weisheit begnügen sich, Personen und Sachen so zu nehmen wie sie sind, ohne sich über ihre Unvollkommenheiten zu beklagen, oder ohne sich zu bemühen, sie zu bessern. Sie können an einem Freunde, einem Verwandten oder Bekannten einen Fehler bemerken, ohne dessen gegen die Personen selbst oder gegen andre zu erwähnen, und dieses oft, ohne daß ihr Wohlwollen darunter leide. Wirklich, wenn nicht ein heller Verstand mit dieser duldsamen Nachsichtigkeit vermischt ist, so sollten wir lieber mit Leuten von einem gewissen Grade von Dummheit Freundschaft eingehen, die wir betrügen können: denn ich hoffe, meine Freunde werden mir's verzeihen, wenn ich's frei gestehe, ich kenne niemand unter ihnen ohne einen Fehler, und es sollte mir leid thun, zu [81] denken, ich hätte einen Freund, der die meinigen nicht sehen könnte. Wir geben und fordern hierüber wechselseitige Nachsicht. Es ist eine Uebung in der Freundschaft, und vielleicht keine von den unangenehmsten. Und diese Verzeihung müssen wir erteilen ohne Besserung zu fordern. Es gibt vielleicht kein sichres Kennzeichen von Thorheit als das Bestreben, die natürlichen Schwachheiten einer Person zu verbessern, die wir lieben. Die feinste Komposition in der menschlichen Natur sowohl, als das feinste Porzellan, kann einen kleinen Makel haben und dieser, fürchte ich, läßt sich in beiden nicht ändern, obgleich dabei übrigens das Stück von der höchsten Kostbarkeit sein kann.
Im Allgemeinen also sah Herr Alwerth zwar gewiß einige Gebrechen an dem Kapitän, allein weil er ein verschlagener Mann und in Alwerths Beisein unablässig auf seiner Hut war, so erschienen ihm diese Mängel nichts mehr zu sein, als Schattenstriche in einem guten Charakter, die ihn seine Güte übersehen und seine Weisheit sich abhalten ließ, sie nur dem Kapitän selbst bemerklich zu machen. Ganz verschieden würde seine Empfindung gewesen sein, wenn er den ganzen Zusammenhang gewußt hätte, wozu es vielleicht mit der Zeit gekommen
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