Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Betrachtung ziehen müssen. Wenn Sie aber mich fragen, was Sie thun sollen,« sagte Jones, »was können Sie wenigeres thun, als die Erwartung des unschuldigen Mädchens und ihrer Familie erfüllen! Ja, ich muß es Ihnen aufrichtig sagen, auch meine Erwartungen waren es seit dem ersten Male, da ich Sie bei einander gesehen habe. Sie werden mir es verzeihen, wenn ich bei der Bewegung des Mitleidens gegen diese arme Familie das Recht der Freundschaft, womit Sie mich beehrt haben, ein wenig freimütig gebrauche, aber Ihr eignes Herz wird es Ihnen am besten sagen, ob es niemals Ihr Endzweck gewesen, Mutter und Tochter durch Ihre Aufführung zu der Meinung zu überreden, daß Sie ehrliche Absichten hätten? Und wenn dem also ist, wenn auch gleich kein ausdrückliches Eheversprechen geschehen wäre, so will ich es Ihrer eignen richtigen Beurteilung überlassen, wie weit Sie zu gehen verpflichtet sind?«
»Wahr ist's, ich muß nicht nur das eingestehn, worauf Sie [116] angespielt haben,« sagte Nachtigall, »sondern ich besorge, das erwähnte Eheversprechen hat gleichfalls stattgefunden.« – »Und können Sie dann, wenn Sie das eingestehn,« sagte Jones, »sich noch einen Augenblick bedenken?« – »Aber erwägen Sie doch, mein Freund!« antwortete der andre; »ich weiß, Sie sind ein Mann von Ehre und sind nicht fähig, jemandem etwas zu raten, das wider ihre Gesetze läuft; wenn auch keine andern Schwierigkeiten wären, kann ich, nachdem ihr Unfall öffentlich bekannt geworden ist, mit Ehren auf eine Heirat mit ihr denken?« – »Ohne allen Zweifel,« erwiderte Jones, »und zwar macht es Ihnen die beste, wahrste Ehre, welche in der Rechtschaffenheit besteht, zur Pflicht. Da Sie doch eine Bedenklichkeit dieser Art aufwerfen, so werden Sie mir Erlaubnis geben, sie zu untersuchen. Können Sie mit Ehren sich bewußt sein, unter falschen Vorspiegelungen ein junges Frauenzimmer und ihre Familie hintergangen und durch dieses Mittel hinterlistigerweise sie ihrer Unschuld beraubt zu haben? Können Sie mit Ehren der wissentliche, der vorsätzliche, ja ich muß noch hinzufügen, der listige Werkmeister des Verderbens eines menschlichen Wesens sein? Können Sie mit Ehren den guten Ruf, den Frieden, die Ruhe, ja wer weiß, selbst das Leben und die Seele sogar dieses menschlichen Wesens vernichten? Kann die Ehre bei dem Gedanken bestehen, daß dieses Wesen ein zartes, hilfloses, wehr- und schutzloses junges Frauenzimmer ist? Ein junges Frauenzimmer, das Sie so inniglich liebt, für Sie stirbt, die in Ihr Versprechen das grenzenloseste Vertrauen gesetzt und diesem Vertrauen alles aufgeopfert hat, was ihr teuer und wert ist? Kann die Ehre dergleichen Erinnerungen nur einen Augenblick aushalten?«
»Der schlichte Menschenverstand,« sagte Nachtigall, »billigt alles, was Sie sagen; aber Sie wissen es, die Meinung der Welt ist so sehr dawider, daß wenn ich eine Hure heiratete, und wär' es auch meine eigne, ich mich schämen müßte, jemals mein Angesicht wieder sehn zu lassen.«
»Pfui, pfui, Herr Nachtigall!« sagte Jones, »nennen Sie sie nicht bei einem so lieblosen Namen! Als Sie ihr die Ehe versprachen, da ward sie Ihre Frau, und sie hat nicht sowohl gegen die Tugend, als gegen die Klugheit gesündigt. Und woraus besteht diese Welt, der Sie sich Ihr Angesicht wieder zu zeigen schämen würden, anders als aus einem Haufen niederträchtiger, thörichter, liederlicher Menschen? Verzeihen Sie mir's, wenn ich sage, eine solche Scham muß sich auf falsche Bescheidenheit gründen, welche immer der falschen Ehre als ihr Schatten nachfolgt. – Aber ich bin versichert, kein Mensch von gesunder Vernunft und Rechtschaffenheit ist auf der ganzen Welt, der die Handlung nicht billigen und ehren wird. Aber gesetzt, auch niemand thät' es, würde Ihr eignes Herz, mein Freund, Ihnen Beifall geben? Und sind denn die warmen, herzerhebenden Empfindungen, die wir beim Bewußtsein einer gerechten, edlen, großmütigen, wohlthätigen Handlung fühlen, der Seele nicht unendlich angenehmer, als der unverdiente Ruhm von Millionen anderer Menschen? Setzen Sie das Für und Wider einmal ganz [117] unparteiisch auseinander. Auf der einen Seite betrachten Sie dieses arme, unglückliche, zarte, verdachtlose Mädchen in den Armen ihrer jammernden Mutter, wo sie den letzten Atem aushaucht; hören Sie, wie ihr brechendes Herz mit dem letzten Schlage noch Ihren Namen seufzt, und die Grausamkeit, die es durchbohrte, mehr bedauert, als anklagt; stellen Sie Ihrer
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