Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Anerbietung Ihrer freundschaftlichen Dienste! Aber, ach! mein edelmütiger Freund, es steht nicht in Ihrer Macht, mein armes Kind zu retten. O, meine Tochter, meine Tochter! Sie ist dahin! Sie ist auf zeitlebens unglücklich gemacht!« – »Ich hoffe doch nicht, Madame,« sagte Jones, »daß ein Bösewicht –« – »O lieber Herr Jones,« sagte sie, »der Bösewicht, der gestern meine Zimmer verließ, hat meine arme Tochter betrogen, hat sie zu Grunde gerichtet! – Ich weiß, Sie sind ein rechtschaffener Mann, Sie haben ein gutes, ein edles Herz, Herr Jones, die Handlungen, wovon ich selbst Zeuge gewesen bin, können aus keinem andern entspringen. Ihnen will ich alles sagen. Ja, nach dem, was vorgefallen ist, ist es ja nicht einmal mehr möglich, daß es ein Geheimnis bleibe. Dieser Nachtigall, dieser barbarische Bube, hat meine Tochter ins Unglück gestürzt. Sie ist – sie ist – o Herr Jones, mein Kind ist von ihm schwanger! und in diesen Umständen ist er fortgegangen und hat sie sitzen lassen! Hier, liebster Freund, ist sein grausamer Brief: lesen Sie ihn, Herr Jones, und sagen Sie mir, ob noch ein solches zweites Ungeheuer auf der Welt zu finden ist?« Der Brief lautete, wie folgt:
»Meine teuerste Nanette!
Da das, was ich Ihnen zu sagen habe, wie ich befürchte, Ihnen ebenso schmerzhaft sein wird, als es mir ist, so war mirs unmöglich, es Ihnen mündlich vorzutragen! Ich nehme also meine Zuflucht zur Feder, um Ihnen die traurige Nachricht zu geben, daß mein Vater darauf besteht, ich soll unverweilt einem jungen reichen Frauenzimmer meine Aufwartung machen, die er bestimmt hat, meine – ich kann das abscheuliche Wort nicht schreiben. Ihre eigne gute Einsicht wird Ihnen begreiflich machen, zu welch einem unbedingten Gehorsam ich gezwungen bin, und wie ich dadurch auf ewig aus Ihren teuren Armen verbannt werde. Die zärtliche Liebe ihrer Mutter mag Ihnen den Mut geben, ihr die unglücklichen Folgen unsrer Liebe anzuvertrauen, welche gar leicht vor der Welt geheim gehalten werden können, und für welche sowohl, als für Sie selbst, ich zu sorgen nicht unterlassen werde. Ich wünsche, daß Sie bei dieser Gelegenheit weniger fühlen mögen, als ich bereits dadurch gelitten habe: aber rufen Sie alle Ihre Standhaftigkeit der Seele zu Hilfe! Verzeihen Sie mir und vergessen Sie einen Menschen, welchen [112] nichts als die gewisseste Aussicht seines gänzlichen Verderbens hätte zwingen können, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Ich bitte Sie, vergessen Sie mich! doch nur bloß als einen Geliebten, aber nicht als den besten Freund; denn einen solchen werden Sie niemals aufhören zu finden in
Ihrem
getreuen, obgleich
unglücklichen
I.N.«
Als Jones diesen Brief gelesen hatte, standen sie beide eine Minute da und sahen sich stillschweigend einander an. Endlich begann er also: »Ich kann Ihnen nicht sagen, Madame, was für einen Unwillen ich über diesen Brief empfinde. Aber lassen Sie sich bitten, in einem Punkte dem Rate zu folgen, den Ihnen sein Verfasser gibt, erwägen Sie den guten Namen Ihrer Tochter.« – »Der ist dahin, ist verloren, Herr Jones!« rief sie, »so gut wie ihre Unschuld. Sie erhielt den Brief in einem Zimmer, das voller Gesellschaft war, und weil sie gleich nach seiner Eröffnung in eine Ohnmacht sank, so ward sein Inhalt allen bekannt, welche gegenwärtig waren. Aber der Verlust ihres guten Namens, so schlimm er ist, ist nicht das ärgste. Ich werde mein Kind verlieren! Schon zweimal hat sie's versucht, Hand an sich zu legen, und ob wir sie gleich bis jetzt daran verhindert haben, so beteuert sie doch noch immer, daß sie es nicht überleben will, und ich selbst würde einen Zufall von der Art auch ebenfalls nicht überleben können! – Was wird dann aus meiner kleinen Betti werden, der armen, hilflosen Waise? und das arme kleine Ding wird sich ohnehin zu Tode jammern, glaube ich, weil sie ihre Schwester und mich so heftig leiden sieht, ohne daß sie davon die Ursache erraten kann! – O, es ist das vernünftigste und gutherzigste kleine Ding! Der hartherzige Barbar! – Uns alle hat er zu Grunde gerichtet. O, meine armen Kinder! Ist dies der Lohn für alle meine Sorgen? Ist das die Frucht von allen meinen schönen Aussichten? Habe ich deswegen so unverdrossen jede Arbeit unternommen? jede Pflicht einer Mutter erfüllt? Bin ich deswegen für ihre Kindheit so bekümmert, so wachsam über ihre Erziehung gewesen? Hab' ich mir's deswegen viele Jahre lang so blutsauer werden
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