Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
in leisem, bedrücktem Ton von den beiden Verlorenen, was Tom getan und gesagt das letztemal, als sie ihn gesehen, und wie Joe gelächelt und was er gesagt; jede geringste Kleinigkeit erschien nun von ahnungsschwerer Vorbedeutung. Dabei bezeichnete jeder Sprecher den genauen Platz, an dem die Vermißten damals gestanden und dann folgte jedesmal: »und ich stand da, grad wie eben und der da, wo du stehst, grad so nah' und er lächelte – so – und mir lief's ganz kalt über den Rücken – ordentlich schauerlich – warum, wüßt ich damals freilich nicht, aber jetzt ist mir's klar.«
Nun entspann sich ein Streit darüber, wer die beiden zuletzt gesehen im Leben, und viele rissen sich um diese traurige Auszeichnung, für die sie Beweise vorbrachten, welche die Zeugen mehr oder weniger glaubwürdig fanden. Schließlich, nach langer Debatte, war's endgültig entschieden, wer die letzten Worte mit den Verschwundenen gewechselt hatte, und die glücklichen Sieger erhielten dadurch eine Würde und Wichtigkeit, welche die Bewunderung und den Neid der anderen erregte. Ein armer, kleiner Bursche, der sonst keine Auszeichnung irgendwelcher Art aufweisen konnte, sagte mit sichtlichem Stolze bei der bloßen Erinnerung:
»Mich, mich hat der Tom Sawyer einmal tüchtig durchgeprügelt.«
Dieser Versuch aber, zu Ruhm zu gelangen, erwies sich als gänzlich erfolglos. Die meisten Jungen konnten sich dessen rühmen, und dadurch sank die Auszeichnung doch allzusehr im Werte. Die Gruppe trollte von dannen, halblauten Tones immer neue Erinnerungen an die verlorenen Helden austauschend.
Am nächsten Morgen, als die Sonntagsschulstunde vorüber war, begann die Glocke mit hohlem, dumpfem Klang anzuschlagen, anstatt wie sonst feierlich zu läuten. Es war ein ungewöhnlich stiller Sabbat und der klagende Ton stimmte zu der nachdenklichen, feierlichen Ruhe, die über der ganzen Natur lag. Die Einwohner des Städtchens gingen zur Kirche und verweilten einen Augenblick in der Vorhalle, um sich flüsternd über das traurige Ereignis zu unterhalten. In der Kirche selbst aber war's totenstill, nur das Rauschen der Frauengewänder unterbrach das Schweigen. Keiner konnte sich erinnern, die kleine Kirche jemals so voll gesehen zu haben. Eine tiefe, erwartungsvolle Pause entstand und dann trat Tante Polly ein, gefolgt von Sid und Mary und der Familie Harper, alle in tiefstem Schwarz. Die ganze Gemeinde zusamt dem Geistlichen erhob sich achtungsvoll von ihren Plätzen, bis die Trauernden durch ihre Reihen geschritten waren und in der vordersten Bank Platz genommen hatten. Wiederum folgte tiefe Stille, nur hier und da durch ersticktes Schluchzen unterbrochen, dann erhob der Geistliche seine Stimme und betete. Ein ergreifendes Lied wurde gesungen, dann folgte die Predigt.
In seiner Predigt entwarf der Geistliche ein solch glänzendes Bild von den Tugenden, der Liebenswürdigkeit und den vielversprechenden Talenten der Verlorenen, daß jeder der Zuhörer in der ehrlichen Meinung, dies getreue Abbild wiederzuerkennen, einen Stich im Herzen fühlte, bei dem Gedanken, wie beharrlich blind er selber gegen alle diese Vorzüge gewesen und wie er ebenso beharrlich nur Fehler und Mängel in den armen Jungen zu entdecken vermocht. Nun folgte manch rührender, hochherziger Zug aus dem Leben der Dahingeschiedenen, der das Vorhergesagte bekräftigen und beweisen sollte, und jedermann gingen nun erst die Augen und das Verständnis auf dafür, wie groß und erhaben eigentlich jene kleinen Vorkommnisse gewesen waren, die ihnen zurzeit als die ärgsten Schelmenstreiche und Teufeleien einer tüchtigen Tracht Prügel wert erschienen. Die Versammlung wurde immer bewegter, je weiter der Geistliche in seiner pathetischen Rede vorrückte, bis schließlich die ganze Gesellschaft jegliche Fassung und Haltung verlor und sich in vollem Chor dem Schluchzen und Seufzen der trauernden Hinterbliebenen anschloß. Ja, den Geistlichen selbst übermannten seine Gefühle, er verstummte und weinte auf offener Kanzel.
Ein Rascheln ertönte von der Emporkirche, auf das niemand achtete. Einen Moment später knarrte eine Türe, der Geistliche erhob seine strömenden Augen über das verhüllende Taschentuch und – stand und starrte wie versteinert! Erst folgte ein Paar Augen der Richtung der seinen, dann ein zweites, und plötzlich erhob sich, wie von einem gemeinsamen Antrieb beseelt, die ganze Gemeinde und starrte auf die drei toten Jungen, welche gemächlich den Mittelgang
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