Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
beide. Palmer musste diesen Ort so in Erinnerung haben, wie er im Sommer war. Damals mussten die Bäume prächtig ausgesehen haben. Heute waren sie tropfnass, dunkel und kahl.
»Vielleicht hilft es, sich an den Gebäuden zu orientieren«, schlug Thorne vor. »Können Sie sich erinnern, in welchem Block Nicklin lebte?« Sie sahen beide hinauf zum Bahndamm. Über den Baumwipfeln blühte, gerade noch sichtbar, ein Feld von Fernsehantennen und Satellitenschüsseln.
Palmer schüttelte den Kopf. »Sehen anders aus. Neuer.«
»Was ist mit der Brücke? Können Sie sich danach richten?«
Palmer sah hinauf zu der Fußgängerbrücke aus Metall, die sich etwa vierhundert Meter von ihnen entfernt über das Tal zwischen den Bahndämmen spannte. »Die gab’s noch gar nicht. Daran bauten sie gerade. Ich kann mich noch an den Lärm erinnern …«
Der Gedanke traf Thorne wie ein Schlag. Wie raffiniert und verschlagen war der vierzehnjährige Stuart Nicklin gewesen? Lag Karen McMahon unter hundert Tonnen Beton im Stützpfeiler begraben? Falls dem so war, hatten sie so gut wie keine Chance, sie zu finden. Nicht dass Jesmond und die in der Hierarchie über ihm überhaupt zustimmen würden, dort zu suchen. Es war schwer genug, eine Suche in dieser Größenordnung durchzubekommen. Die drei magischen Buchstaben hatten letztlich den Ausschlag gegeben. Nachdem er mit Hendricks gesprochen hatte, war er sich keineswegs sicher, ob das überhaupt möglich war, doch die Außenseiterchance, verwertbare DNS des Mörders zu finden, hatte das Zünglein an der Waage in seine Richtung bewegt. Bei Nicklins jüngsten Opfern hatten sie nichts gefunden, doch vielleicht war er als Anfänger nicht ganz so vorsichtig zu Werke gegangen.
DNS – ein gigantischer Durchbruch im Kampf, Mörder zu verhaften und zu überführen. Eine nützliche Waffe, wenn es darum ging, die Oberhand über seine geistig etwas weniger bemittelten Vorgesetzten zu gewinnen …
Palmers Blick wanderte von der Brücke zu den Abhängen, die sich links und rechts von ihnen erhoben. Er musterte die kleine Gruppe uniformierter Polizisten, die an verschiedenen Punkten entlang des Bahndamms postiert waren. Einige von ihnen standen vollkommen unbewegt da, das Funkgerät in der Hand, und einige wanderten langsam dahin, so wie er selbst und Thorne.
»Wie läuft das ab?«, fragte Palmer.
»Sobald wir einen Anhaltspunkt haben, sobald Sie uns eine Stelle nennen, an der wir anfangen können, wird ein Team kommen, um das Gebiet freizuräumen – das Gras mähen, die Geräte bereitstellen, um die Arbeit zu erleichtern. Eine Zeit lang wird es eher an die Gartensendung Ground Force erinnern.«
Palmer nickte schnell. Das hatte er nicht gemeint. »Ich meine, danach? Die Suche selbst. Das Graben …«
Thorne blies die Backen auf. Nachdem er seit Jahren an keiner derartigen Suche mehr beteiligt gewesen war, war er sich hierbei selbst nicht so sicher. »Ein Team von Spezialisten. Wahrscheinlich mit Hunden …« Palmer zuckte zusammen. Wie sie wohl die Hunde dafür trainierten?, fragte sich Thorne. Ein Thema, über das er nicht allzu lange nachdenken wollte. Drogen zu suchen war eine Sache, aber nach dem Tod zu schnüffeln? »Cadaver dogs« – Leichenhunde – hießen sie in den USA.
Ein lebhaftes Bild brachte ihn kurz aus der Fassung, raubte ihm einen Moment den Atem …
Heraushängende, ledrige Zungen und Pfoten, die in der Erde scharrten, spinnwebenzarte Haut zerrissen und durch poröse Knochen brachen.
Thorne wartete ein paar Sekunden. »Wenn wir dann eine Leiche finden, holen wir einen forensischen Archäologen hinzu …«
Palmer fiel ihm ins Wort. »Sie werden nichts finden.« Er hielt inne und sah hinunter zu Thorne. Seine Handgelenke steckten in Handschellen, wodurch sein ohnehin vornübergebeugter Gang noch extremer wurde und er auf beinah absurde Weise wie ein Buckliger daherkam. »Warum sollte sie hier sein?«
Die offensichtlich aufrichtige und aus tiefstem Herzen kommende Frage veranlasste Thorne, selbst eine Frage zu stellen. Eine, die er bereits gestellt hatte. Warum hatte Palmer nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, Nicklin könne etwas mit Karen McMahons Verschwinden zu tun gehabt haben? »Vielleicht nicht damals«, sagte Thorne. »Das leuchtet mir ein. Aber jetzt, seit er wieder auftauchte und die Morde begannen, jetzt, da Sie über ihn Bescheid wissen. Halten Sie es denn nicht wenigstens für möglich?«
Etwas wie ein Lächeln huschte über Palmers Gesicht, wie damals,
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