Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Taxi quälte sich durch Swiss Cottage, über lange, nasse und verlassene Straßen in Richtung Chalk Farm. Der Fahrer redete mit ihm, warf bedeutungsvolle Blicke über die Schulter, doch Thorne hörte nicht zu.
Ein Junge namens Stuart Anthony Nicklin …
Thorne wünschte sich, die vor ihm liegenden zwei Wochen lägen bereits hinter ihm. Nicht wegen der Rackerei, die ihn erwartete, oder wegen seines Vaters oder Charlie Garner. Er sehnte sich danach, die Zeit vorzudrehen, weil er den Fall vorwärts treiben wollte.
Es bestand eine geringe Chance auf einen Durchbruch in der Weihnachtszeit. Er hegte allerdings große Zweifel daran. Sicher war er sich dagegen, dass von Seiten Jesmonds und Brigstockes Druck auf ihn ausgeübt werden würde. Die maßgeblichen Kräfte würden darauf bestehen, über die Geschehnisse informiert zu werden. Wann würde diese dämliche Idee, die er da gehabt hatte, ein sichtbares Ergebnis liefern – abgesehen von der astronomischen Überstundenabrechnung?
Das Taxi blieb quietschend vor einer Ampel stehen. Eine Gruppe betrunkener Nachtschwärmer torkelte vor ihnen singend und winkend über die Straße. Der Taxifahrer winkte zurück und murmelte: »Wichser.«
Das Taxi bog mit aufheulendem Motor nach rechts in die Camden Road. Thorne lehnte sich zurück und schloss die Augen. Zwei Wochen den maßgeblichen Kräften um den Bart streichen half wenigstens, die Zeit totzuschlagen. Und das wollte er. Mausetot wollte er sie sehen.
Er konnte schlecht in hektische Aktivität verfallen, während der Rest der Welt Urlaub machte. Und manche Leute machten länger Urlaub als andere …
Thorne war zu dem Schluss gekommen, dass er, um weiterzukommen, zurückgehen musste.
Er musste dorthin zurückgehen, wo alles begonnen hatte.
Dritter Teil
Das abgewandte Gesicht
Dreizehntes Kapitel
Die Schule befand sich in einer ruhigen, grünen Gegend in Harrow, nur etwa eine Meile von einer bekannteren Schule entfernt – einer, die ein Theater, eine Farm sowie einen Golfplatz ihr eigen nannte –, die sich rühmte, Byron, Nehru und Churchill unter ihren Schülern gehabt zu haben. Als das Auto gemächlich die Auffahrt zum Hauptgebäude hinauffuhr, ging Thorne durch den Kopf, dass die King Edward IV Grammar School for Boys bald noch weniger Grund haben würde, stolz auf ihre alten Herren zu sein.
Die erste Woche des Jahres 2002. Die Ermittlungen steckten fest, brauchten einen Tritt in den Hintern, um wieder in Schwung zu kommen.
Die Zeit nach Weihnachten war ziemlich genau so verlaufen, wie Thorne befürchtet hatte: wenig Fortschritt, jede Menge Sorgen. Die Ferien waren gelegen gekommen, um eine Vielzahl von Versäumnissen zu verschleiern – zu jeder anderen Zeit wäre weitaus stärker aufgefallen, wie sehr der Fall ins Stocken geraten war. Doch in Verbindung mit dem dafür betriebenen Personalaufwand erregte diese Tatsache trotzdem die unwillkommene Aufmerksamkeit der maßgeblichen Kräfte.
Brigstocke bekam offensichtlich sein Fett von oben ab und schien größten Gefallen daran zu finden, dies an die unteren Ränge weiterzugeben.
»Man verliert allmählich die Geduld, Tom.«
»Die anderen oder Sie?«
»Kommt aufs Gleiche raus.«
»Genau. Verstehe. Also, sobald die Schule wieder anfängt, werde ich …«
»Was? In Nicklins Akte nachsehen, wie oft er geschwänzt hat? Wie oft er hat nachsitzen müssen?«
»Haben Sie eine bessere Idee?«
»Sie sind für die Ideen zuständig, Tom. Wir warten nur, ob eine davon was bringt …«
»Geht es hier noch immer um meine Bemerkung mit dem Arsch auf dem Zaun? Ich bin es allmählich leid, mich ständig dafür zu entschuldigen.«
»Ich bin es noch immer nicht leid, es zu hören, verstanden?«
Die Schulkinder wichen aus, um das Auto vorbeizulassen, als Thorne langsam die Auffahrt hinauffuhr und auf den Parkplatz einbog. Die Jungs sahen schick aus in ihren grauen Hosen und den blauen Blazern mit den bordeauxroten Paspeln. Falls die Schule unter einem Minderwertigkeitskomplex litt, war ihr davon von außen mit Sicherheit nichts anzumerken.
Holland stieg aus dem Auto und riss die Augen auf.
»Überhaupt nicht wie meine Schule …«
Und auch nicht wie meine, dachte Thorne. Ein kleiner, stämmiger Bursche tauchte vor seinen Augen auf, der aus dem Bus sprang. Höchst zufrieden mit seinen geföhnten Haaren, seiner neuen Hose und seinem coolen Pullover. Thorne sah zu, wie er den Hügel hinaufging und dabei »Blockbuster« und »Mama Weer All Crazee Now« sang,
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