Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
begannen.
Als er die Augen öffnete und wieder nach unten sah, war Thorne verschwunden.
Er hatte schon immer leicht angefangen zu weinen, sogar bevor er Stuart Nicklin kennen lernte. Gegen die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, und das Blut, das ihm in die Wangen schoss, war er machtlos gewesen, solange er zurückdenken konnte. Er erinnerte sich, wie Stuart auf dem Schulhof um ihn herumsprang und ihn mit schokoladenverschmiertem Mund auslachte.
Und wie er sich langsam auf die Mauer hinter sich zubewegte, getrieben von der Hitze, die von seinem Gesicht abstrahlte, das röter und röter wurde …
Er erinnerte sich an die Stimme eines älter gewordenen Stuart; vor sechs Monaten, mittags in dem Bistro, nachdem die zwei Kollegen aus dem Büro sich verdrückt hatten und Stuart mit ihm sprach und alles wieder anfing. Die Stimme war jetzt tiefer, aber noch immer war darin dieses Lachen zu spüren und das Eis in dem Lachen.
»Denkst du noch manchmal an Karen? Ich habe ihnen nie davon erzählt, weißt du, Mart. Nicht alles, meine ich. War ja auch nicht nötig, oder? War nicht deine Schuld, was passierte. Dass sie mit dem Typen mitging, hatte nichts mit der anderen Sache zu tun. Der Sache mit dir.« Darauf schwieg er und beugte sich zu ihm vor, das Gesicht in Sorgenfalten gelegt. »Glaubst du, es war deine Schuld? War es natürlich nicht. Klar, sie war außer sich, aber das heißt ja noch lange nichts, oder? Würde mich ja interessieren, was die Leute jetzt darüber denken würden, wenn sie es wüssten … Glaubst du, sie würden dir die Schuld geben? Du weißt ja, wie es heute ist, wo es ständig nur um Sex geht und dass man die Kinder schützen muss. Leute werden gejagt …«
Palmer hatte versucht, mit keiner Miene zu verraten, wie tief erschrocken er war, als Nicklin zu reden aufhörte. Doch er wusste, er hatte kläglich versagt.
»Ich möchte nicht sagen, dass ich je ein Wort darüber verliere, Martin, aber du weißt, manche Leute sind richtiggehend krank im Kopf …«
Sally aus Glasgow: »Wir tun es ohnehin nur der Kinder wegen, nicht wahr?«
Arthur aus Newcastle: »Was spricht gegen die Kommerzialität? Mit Shopping können diese Kinder verdammt viel mehr anfangen als mit Jesus Christus …«
Bridget aus Slough: »Wie können wir überhaupt feiern, wenn die Welt so ist, wie sie ist? Menschen hungern. Sind drogensüchtig. Leben auf der Straße. Was ist mit den Familien dieser zwei armen Frauen, die vor ein paar Wochen erschossen wurden? Wie wird ihr Weihnachten aussehen?«
Der Mann, der einmal Stuart Nicklin geheißen hatte, klebte eine kleine goldene Schleife auf das letzte Päckchen, beugte sich vor und drehte das Radio lauter. Ja, das brachte die Angelegenheit schon eher auf den Punkt. Bridget, auf ihrem hohen Ross, hatte natürlich jedes Recht sich aufzuregen: Es war eine üble Sache. Selbst wenn eine der so genannten »armen Frauen« nach wie vor putzmunter war.
Bob, der Moderator, stimmte der Anruferin zu. War vollkommen ihrer Meinung. Er bedankte sich überschwänglich für den Anruf, war aber zugleich erpicht darauf, weiterzugeben zu Alan aus Leeds, der über die schockierende Preissteigerung bei der Post sprechen wollte …
Er schaltete das Radio aus, stand auf und rieb sich die Beine, die ein wenig verkrampft waren. Schließlich hatte er die letzte halbe Stunde auf dem Boden gekauert und eifrig mit Tesa und Schere hantiert. Das war inzwischen zu einer Art Tradition geworden – Caroline machte es sich früh im Bett gemütlich, während er lange aufblieb und die Geschenke einpackte.
Nur noch ein paar Stunden, bevor der Trubel losging. Morgen hatten sie ein volles Haus: Carolines Eltern, ihre Schwester, die drei Kinder ihrer Schwester, die wie die Verrückten durchs Haus toben würden.
Vielleicht hatten sie nächstes Jahr um diese Zeit selbst ein Kind. Natürlich nicht, wenn er es irgendwie vermeiden konnte. Er tat sein Bestes, das Thema gar nicht erst aufkommen zu lassen, aber Caroline fing ständig damit an. Aber nicht jetzt. Noch nicht. Er hatte noch eine Menge vor, bevor er diesen Weg einschlug. Wenn er sich von außen sah, wenn er sich selbst mit den Augen eines Fremden betrachtete, dann stand er aufrecht über einer Leiche, in seinen Adern brauste das Blut, das Licht brach sich über ihm wie Wolken, in die sich die Flügel eines mächtigen Düsenjets gruben. Er durchschnitt das Leben, durchtrennte es, zu allem fähig. Er wollte nicht so … tief sinken. Er wollte nicht herumwerkeln,
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