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Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders

Titel: Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
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über einem Kinderwagen hängen mit Babyspucke am Kragen. Scheiße, das war er nicht.
    Er trug die Geschenke seiner Frau hinüber zu dem Baum und legte sie darunter. Er richtete sich auf und beugte sich vor, um sein verzerrtes Spiegelbild in einer großen Silberkugel zu betrachten. Es schockierte ihn noch immer, sich ohne Bart zu sehen. Zunächst hatte er etwas Angst gehabt, als er ihn abrasierte. Eine völlig unnötige Angst, wie sich herausstellte. Der vollkommen andere Haaransatz, die volleren Wangen und die Nasenoperation, für die er vor so vielen Jahren gespart hatte, ließen ihn noch immer völlig anders aussehen als den Mann, zu dem er vor sechzehn Jahren eigentlich hätte heranwachsen müssen.
    Alles in allem hätte er den Bart wohl genauso gut dranlassen können. Die Bilder, die er in den Zeitungen und im Fernsehen gesehen hatte, lagen geradezu lächerlich weit daneben – Palmers Beschreibung. Es mussten die Hormone sein oder die Endorphine oder wie immer das Zeug hieß, das bei Angst ausgeschüttet wurde – war es Adrenalin? – und das Gedächtnis durcheinander brachte.
    Vielleicht war das das Geheimnis von Diktatoren. Da ließ sich eine Linie ziehen von Robespierre bis zu Pol-Pot – sie alle benutzten den Terror, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Man jage seinen Feinden und, besser noch, seinen Freunden eine solche Angst ein, dass sie all die schrecklichen Dinge vergessen, die man ihnen antut. Die Frage war, funktionierte das auch andersherum?
    Fingen sie an, sich zu erinnern, wenn sie aufhörten, sich zu fürchten?
    Er kniete sich auf den Boden, schaltete die Lichter aus und blieb sitzen, atmete den herrlichen Duft des Baumes ein und dachte über Palmer nach.
    Stellte sich vor, wie er allein war und sich fürchtete. Ein grässlicher Bulle, der auf ihn aufpasste, ihn finster anstarrte, sich voller Abscheu ausmalte, ihm wehzutun, was nur im Sinne aller sein konnte. Er sah Palmers breites, weiches Puddinggesicht vor sich, seine traurigen, weit auseinander stehenden Augen. Wie sie hinausschauten in die Nacht, während er an Karen dachte und auf seine Rettung wartete. Wie ein Mädchen an seiner wulstigen Unterlippe kaute.
    Was wünschst du dir vom Weihnachtsmann, Martin?
    Meinen Kopf auf einem Tablett! Meinen Namen auf einem Verhaftungsformular, damit du dich, wenn du in deine Zelle schleichst, ein bisschen weniger schuldig fühlen kannst?
    Tut mir Leid, Mart …
    Er überlegte, ob er ihm eine E-Mail schicken sollte, um ihn etwas aufzumuntern. Weihnachts-E-Mails erfreuten sich ja im Augenblick großer Beliebtheit. Etwas Einfaches und der Jahreszeit Angemessenes. Ein Bild von einem Rotkehlchen, das auf einem schneebedeckten Spaten sitzt, und dazu eine kurze Nachricht.
    Ich denk an dich …
    Eine verführerische Vorstellung, aber, das war ihm klar, zu theatralisch. Sie würden sie nicht zurückverfolgen können, da war er sich sicher, doch trotzdem war es wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Zunächst wollte er Weihnachten hinter sich bringen, abwarten, bis sich alles beruhigt hatte. Dann würde er sich entscheiden, wie er weiter vorgehen wollte.
    Wobei er davon ausging, dass ihm die Entscheidung in gewisser Weise abgenommen werden würde.
     
    Es fing an zu regnen.
    Thorne winkte sich in der Abbey Road ein Taxi heran. Er war nicht weit entfernt von dem Zebrastreifen, den die Beatles berühmt gemacht hatten, als sie vor mehr als dreißig Jahren darüber spazierten – mit einem barfüßigen und aus dem Tritt geratenen McCartney.
    Er zog die Tür auf. »Kentish Town …«
    Der Fahrer sah ihn nicht einmal an. »Zu der Zeit dreifacher Preis, Kumpel, geht das klar?«
    Thorne grinste über die paar Lamettafäden an der Taxiantenne. Vielleicht war das ironisch gemeint. Er nickte und stieg ins Taxi. »Ja, ist egal …«
    »I Wish It Could Be Christmas Everyday« dröhnte aus dem Radio. Thorne liebte dieses Lied, es weckte in ihm den Wunsch, sofort loszustürmen und Stechpalmen und Eierlikör zu kaufen. Doch nun wünschte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, Weihnachten sei vorbei und erledigt. Weihnachten und Neujahr, kondensiert und komprimiert. Nichts mehr davon zu hören und zu sehen, das wünschte er sich, nein, das war überlebensnotwendig …
    Charlie Garner fiel ihm ein.
    Ob der Junge jetzt im Bett lag und lauschte, ob er das Rentier auf dem Dach hörte? Nicht schlafen konnte? Oder hatte er die ganze Zeit schon nicht schlafen können und lag jetzt im Bett, die Schreie seiner Mutter im Ohr?
    Das

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