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Tom Thorne 04 - Blutzeichen

Titel: Tom Thorne 04 - Blutzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
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war und in deren Kirchenbüchern die Namen von Milton, Marvell und Garrick standen. In den Gräbern, die sich hinter dem spitzenbewehrten Eisenzaun befanden, lagen viele, die den Tod am Baum von Tyburn fanden und die ihr letzter Schluck wesentlich billiger kam als das, was Thorne und Chamberlain gerade bezahlt hatten.
    An der Denmark Street überquerten sie die Straße und bogen in die Charing Cross Road ein. Im Norden wurde die Skyline vom Centre Point dominiert. Der Büroblock, der einmal als das Nonplusultra und, noch merkwürdiger, als hoch gegolten hatte, stand nach seiner Fertigstellung eine Weile leer, worauf eine Wohltätigkeitsorganisation, die sich Obdachloser annahm, sich in einer ironischen Geste nach ihm benannte. Das Gebäude erhob sich über einer Gegend, die vor hundertfünfzig Jahren ein übler und dicht bevölkerter Slum gewesen war. Das Rookery war ein Labyrinth aus schmuddeligen Gassen, Durchschlupfen und Höfen gewesen, wo die Armen in größter Verwahrlosung hausten und das Verbrechen so verbreitet war wie die Krankheiten. Ein sich ausbreitendes Netz von »Spelunken« und »Freudenhäusern«, in das kein Polizist einen Fuß zu setzen wagte.
    Thorne umriss die Geschichte dieser Gegend, während sie liefen. Sie war aufgeblüht, wenn man das so nennen konnte, bis sie nach über hundert Jahren, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, platt gemacht wurde, um für die heutige New Oxford Street Platz zu machen. An die genaue Jahreszahl konnte Thorne sich nicht erinnern.
    »Wir beide reden irgendwie oft über Geschichte«, bemerkte Chamberlain.
    Thorne lachte. »Und nicht alles ist so lange her und so düster.«
    »Warum tun wir das deiner Meinung nach?«
    Thorne ließ sich die Frage kurz durch den Kopf gehen. »Vielleicht, weil wir glauben, wir können aus der Geschichte lernen.«
    »Können wir das?«
    »Und ob wir das können. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es tun. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob sich so viel verändert hat.«
    Chamberlain sagte etwas darauf, doch ihre Worte gingen in dem Sirenengeheul eines Polizeiwagens unter, der an ihnen vorbei Richtung Leicester Square raste. Thorne schüttelte den Kopf. Chamberlain wartete darauf, dass der Lärm verstummte, bevor sie ihre Worte wiederholte: »Was ja auch etwas Beruhigendes hat.«
    Er sah in die Fenster der Internetcafés und Computerläden und musste dabei an die Abfälle und den Schmutz in den Rinnsteinen und die Familien in den Kellerlöchern denken. Männer und Frauen, denen nichts übrig blieb, als sich zu verkaufen und zu stehlen, um ihr Leben zu fristen, ein Leben, das man nur als unmenschlich bezeichnen konnte.
    »Hast du Oliver Twist gelesen?«, fragte Thorne. Es war die schreiende Ungerechtigkeit des Lebens in der Rookery und ähnlichen Gegenden, die Dickens beschrieb. Vielleicht war er dabei eine Spur zu romantisch bei der Ausgestaltung von Bill Sikes, Fagin und seiner Bande jugendlicher Spitzbuben …
    Chamberlain schüttelte den Kopf. »Ich hab nur das Musical gesehen. Ist schon eine Schande.«
    Thorne lief ein paar Schritte, bevor er sich dazu durchrang, ein Geständnis abzulegen. »Ich spielte bei der Schulaufführung von Oliver! mit. Ich hatte die Rolle des Artful Dodger …«
    Chamberlain griff nach seinem Arm. »Na, das hätte ich nur zu gerne gesehen. Dafür hätte ich jede Menge bezahlt.«
    »Du hättest es bereut.«
    Das Theaterspielen hatte Thorne damals richtig Spaß gemacht. Er hatte seine Rolle gespielt, sich produziert und herumgehampelt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Menschen, auf denen die Charaktere beruhten, etwas mehr getan hatten, als eine oder zwei Geldbörsen zu stibitzen.
    »Kannst du noch einen der Songs?«, fragte Chamberlain. Sie fing an, »Consider yourself« zu summen, aber Thorne stimmte nicht ein.
    »Ich weiß noch, dass ich einen Zylinder hatte, der, wenn man ihn zusammendrückte, wieder aufsprang. Und dass mir meine Omi bei der Premiere zuwinkte, als ich auf die Bühne kam. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich die ganze Zeit versucht habe, mit einem Mädchen aus der sechsten Klasse zu knutschen, das die Nancy spielte.«
    Sie bogen in den Eingang der U-Bahn-Station. Liefen die Treppe zu den Drehkreuzen hinunter.
    »Also hatte schon damals dein Lümmel das Sagen …«
     
    Später in seiner Wohnung saß Thorne am Küchentisch und wartete darauf, dass das Wasser kochte. Er rief seinen Vater an, aber die Leitung war ständig belegt.
    Er hatte sich noch

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