Tom Thorne 04 - Blutzeichen
immer nicht daran gewöhnt, die Wohnung wieder für sich zu haben. Hendricks war in der Woche zuvor zurück in seine Wohnung gezogen, und wenn Thorne ehrlich war, fehlte er ihm nun. Natürlich war es in Ordnung, seine Ruhe und seinen Frieden zu haben, und die über die Wohnung verstreuten Jogginghosen vermisste er bestimmt nicht, und genauso wenig das Geläster über seine Plattensammlung.
Nach fünf Minuten rief er bei der Vermittlung an und bat darum, die Leitung seines Vaters zu überprüfen. Sein Vater hatte das Telefon abgehängt.
Es war auch nett, wieder für sich zu sein. Zwar kannte Hendricks keine solchen Hemmungen, aber Thorne hatte sich etwas unwohl dabei gefühlt, wenn er in Gegenwart seines Freundes nicht vollständig angezogen war. Ihm war klar, dass das albern war, wenn nicht schlimmer, aber der Gang vom Bad zum Schlafzimmer war manchmal etwas eigenartig gewesen.
Thorne nahm seinen Tee mit ins Wohnzimmer. Er legte Musik ein und holte sich, da er schon stand, eine zerlesene London-Enzyklopädie aus dem Regal.
Die Rookery von St. Giles war 1847 niedergerissen worden.
Er trank seinen Tee und lauschte Laura Cantrell und zwischen den einzelnen Nummern dem Verkehrslärm in der Ferne. Er saß und las …
Während die diversen King Georges kamen und gingen, während die Wissenschaft und die Revolution die Welt so veränderten, dass sie nicht wieder zu erkennen war, erreichten das Elend und das Verbrechen in den schlimmsten Vierteln der Stadt ein unglaubliches Ausmaß. Die Armen und Siechen bestahlen und ermordeten einander und verkauften ihre Kinder für eine Ration Gin. Und das Gesetz überließ sie mehr oder weniger sich selbst.
Zwei Jahrhunderte später ging es um andere Drogen. Die Schusswaffe war an die Stelle des Knüppels und des Rasiermessers getreten. Die Rookeries hießen Sozialwohnungen.
Thorne fiel ein, was Chamberlain gesagt hatte, als die Polizeisirene leiser geworden war.
»Beruhigend« war dafür nicht der passende Ausdruck …
Vierundzwanzigstes Kapitel
»Also los, wie sieht mein Zeugenschutzprogramm aus?«, wollte Rooker wissen.
Auf der Suche nach einem Hinweis wanderte sein Blick von Thorne zu Holland und wieder zurück. Die zwei Polizisten sahen einander an und kosteten den Moment aus.
Zu sagen, der Fall der SO7 – insbesondere der Teil, der sich mit Gordon Rookers Zeugenaussage befasste – befände sich in einem chaotischen Zustand, wäre eine Untertreibung gewesen. Das Konzept des Zeugenschutzes wurde schließlich gegenstandslos, wenn derjenige, vor dem man Schutz gewährte, von seiner Exfrau erstochen wurde. Wie Thorne Rooker bereits einmal erklärt hatte, gab es verschiedene Grade von Zeugenschutz, je nach Einschätzung der Bedrohung. Rooker hatte offensichtlich verstanden. Er hing am Telefon, nachdem die Buschtrommeln im Gefängnis verrückt gespielt hatten, noch bevor die Nachricht von Ryans Tod es in die Nachrichten geschafft hatte. Er wütete und schimpfte und verlangte zu wissen, wo er stand. Man hatte ihm über die geeigneten Kanäle bereits erläutert, dass nun, in den Nachwehen des Mordes an Billy Ryan, sein Seelenfriede auf der Prioritätenliste der meisten Beteiligten ziemlich weit unten rangierte.
Jetzt, da er Thorne zum ersten Mal seit Ryans Tod persönlich gegenübersaß, suchte Rooker noch immer nach einer Antwort. »Und? Wie sieht es aus?«
Thorne zog die Nase kraus und nickte nachdenklich. »Eine etwas abgespeckte Form und keine komplett neue Identität. Vielleicht eine Möglichkeit, uns zu alarmieren, falls Sie sich bedroht fühlen.«
»Wie bitte?«
Holland grinste. »Eine Perücke und eine Pfeife.«
»Ach, lasst den Scheiß …«
Auf praktischer Ebene war bislang nicht einmal eine Entscheidung darüber gefallen, wo Rooker untergebracht werden sollte. Er befand sich noch immer im Zeugenschutztrakt in Salisbury, was eigentlich albern war. Eine Rücküberweisung in den Trakt für gefährdete Häftlinge in Park Royal oder selbst, wie vorgeschlagen worden war, eine Verlegung in einen normalen Trakt wäre möglich, da ja offensichtlich von Billy Ryan keine Gefahr mehr ausging. Dieses Ansinnen hatte bei Rooker eine derartige Panik und Wut ausgelöst, dass sein Anwalt, der ihm davon berichtete, kurz um sein Leben bangte. Da sie zu keiner schnellen Entscheidung kamen, rangen sie sich am Schluss dazu durch, ihn dort zu lassen, wo er war. Wo er auch bleiben wollte. Aber Rooker schien keineswegs zufrieden …
»Ich verstehe nicht«, sagte Holland, »dass Sie
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