Tom Thorne 04 - Blutzeichen
Essen.
»Bist du sauer auf mich?«, brach Carol schließlich das Schweigen.
»Sei nicht albern. Ich mach mir nur Sorgen.«
»Ich hab dir den Abend verdorben.«
»Du konntest nichts dafür. Für das, was passierte. Du hast mir den Abend nicht verdorben.«
Carol nickte, ohne den Blick von einem Kratzer am Autofenster zu wenden, von der Dunkelheit, die dahinter vorüberglitt.
Es war plötzlich da, wie aus dem Nichts, als sie sich über ihre Spaghetti hermachte – eine Hitze, die kribbelte und sich schnell ausbreitete –, bis sie ihre Gabel hinwarf und zur Toilette stürzte. Zehn Minuten später war sie wieder aufgetaucht, blass und mit einem zaghaften Lächeln, das niemanden täuschte, nicht den Geschäftsführer, der ihr anbot, einen Arzt zu rufen, und ihr versicherte, das Essen ginge auf Kosten des Hauses; und schon gar nicht ihren Mann. Jack zuckte den Kellnern gegenüber die Schultern und lächelte. Er nahm sie am Arm. »Komm, Schatz. Du bist kreidebleich. Wir gehen jetzt besser …«
Carol wusste sehr wohl, was los war. Das hier war das erste körperliche Symptom eines Virus, der seit dem Tag in ihr lauerte, an dem sie ihren Polizeiausweis zurückgegeben hatte. Auf seine Chance lauerte. Schon öfters hatte sie versucht, ihn zu ignorieren, wenn sie entgegen ihrer Art reagierte und sich mit der Frage konfrontiert sah:
Einmal Bulle, immer Bulle?
Sie kannte die Antwort. Diese kalten Fälle waren Kinderkram, eine Spielerei gegen das, was sie früher getan hatte. Jetzt quälten sie Zweifel, Wut, Schmerz und Angst. Und sie hatte wirklich Angst. Sie empfand das auf eine Weise, wie sie es in den letzten dreißig Jahren nicht getan hatte, in denen sie andere gesehen hatte, die sich mit denselben Gefühlen herumschlugen. Sie fühlte sich wie eine Normalbürgerin. Und sie hasste es.
Natürlich war Gordon Rooker der Auslöser. Nach Thornes Besuch im Royal war sie zwar beruhigt gewesen, aber der Effekt hielt nur ein paar Stunden an. Gott, es war alles so bescheuert. Schließlich sprachen die Tatsachen für sich: Rooker saß im Gefängnis; Rooker war schuldig; wer immer sie anrief und die Briefe schickte, war ein Irrer, der, wie es aussah, inzwischen ohnehin aufgegeben hatte.
Doch sie hatte sich nicht deswegen übergeben müssen. Sie musste sich mit den Gefühlen auseinander setzen. Mit der Panik.
Sie musste wieder anfangen, sich wie ein echter Bulle zu verhalten.
»Das Essen kann es nicht gewesen sein«, sagte Jack, als er langsam in ihre ruhige Seitenstraße einbog. »Wie oft haben wir in den letzten Jahren dort gegessen …?«
Hendricks schlief bereits, als Thorne kurz nach elf nach Hause kam. Er schlich am Sofa vorbei in die Küche, und Elvis, seine psychotische Katze, sprang von Hendricks’ Beinen, wo sie sich zusammengerollt hatte, um ihn zu begrüßen. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, schüttete er der Katze ein paar Brekkies in die schmuddelige Plastikschüssel und erzählte Elvis von seinem Tag. Lieber hätte er sich mit seinem Freund unterhalten, der als Gesprächspartner um einen Tick besser war, doch das Schnarchen aus dem Nebenzimmer zeigte, dass Hendricks jenseits von gut und böse war. Thorne wollte ihn nicht aufwecken. Er wusste, Hendricks hatte wahrscheinlich selbst einen harten Tag hinter sich.
Bis zu den Ellbogen in den Eingeweiden von Muslum und Hanya Izzigil.
Thorne trank seinen Tee am Küchentisch und dachte an die Menschen, die diese Nacht schlaflos verbrachten. Weil sie Geldsorgen hatten oder Probleme im Büro oder mit ihrem Partner. Schon merkwürdig, was manche Leute wach hielt, während ein Mann, dessen Geschäft der Tod war – und in der Regel ein alles andere als friedlicher Tod –, wie ein Baby schlief. Er dachte an Dave Holland, der ihm mit verschlafenen Augen um vier Uhr morgens erklären würde, wie bescheuert solche Gedanken sind.
Natürlich wusste er nicht, was in Phil Hendricks’ Träumen geschah …
Thorne selbst hatte nicht mehr so großartig geschlafen seit jener Nacht vor einem Jahr, als er dem Tod so nahe kam. Er hatte Albträume, klar, aber inzwischen schien sich sein Körper daran gewöhnt zu haben und nicht mehr so viel Schlaf zu brauchen. In den meisten Nächten kam er mit vier oder fünf Stunden Schlaf aus, um dann, wenn er einen Tag freihatte, in eine Art Koma zu fallen.
Er zog sich die Schuhe aus und machte sich mit seinem Tee auf den Weg ins Schlafzimmer. Aus dem abgedunkelten Wohnzimmer nahm er noch seinen SC-Walkman und ein
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