Tom Thorne 04 - Blutzeichen
genauso drauf.«
»Doch wenn wir allein waren, konnte er vollkommen anders sein. Wenn niemand dabei war, nur er und ich und eine Flasche Wein oder was auch immer, dann ging er auf mich los. Vielleicht hatte er auch da Spaß, keine Ahnung …«
Ein Schatten legte sich über ihre Augen, und Thorne wusste, was sie meinte. Ihm fielen die Füße ein, die so zierlich wirkten in den auf Hochglanz polierten Schuhen, aber auch Ryans gewaltige Schultern unter dem Blazer.
Zwei Seiten. Der Tänzer und der Boxer.
»Nicht der dümmste Grund, um jemanden zu verlassen«, meinte er.
»Er hat mich verlassen.«
»Stimmt …«
»Er sagte, er könne nicht mit den ganzen Problemen umgehen, die ich mit mir rumschleppe. Der Kram mit Jess, über den ich nicht hinwegkam.«
Thorne musste bewusst an sich halten, dass ihm die Kinnlade nicht nach unten klappte. Probleme? Kram? Das war alles eine direkte Folge dessen, was ihr Ehemann getan hatte.
Alison sah Thornes Miene und hielt es für einen Ausdruck milder Überraschung. »Ich hatte immer wieder ziemlich extreme Stimmungsschwankungen. Billy war nicht gerade eine Stütze. Er sagte immer nur, ich sei neurotisch, bräuchte Hilfe. Er meinte, ich würde mich selbst hassen und man könne es nicht mit mir aushalten. Ich müsste unbedingt darüber hinwegkommen, was damals auf dem Schulhof passierte.«
Als ein von Billy Ryan bezahlter Mörder zu ihrer Schule gekommen war, um sie umzubringen. Als ihre beste Freundin vor ihren Augen in Flammen aufging.
»Nein«, sagte Thorne. »Nicht gerade eine Stütze.«
Sie schwenkte den letzten Schluck Wein im Glas. »Er hatte natürlich Recht damit, dass ich Hilfe brauchte. Aber nach den paar Jahren mit Billy brauchte ich noch viel mehr Hilfe. Dafür ging ein Teil des Geldes drauf, das mir meine Mum damals gab. Ich schmiss eine Menge Geld aus dem Fenster, um fremde Leute dafür zu bezahlen, mir zuzuhören. So viele Enttäuschungen für fünfzig Pfund die Stunde.«
Thorne starrte sie an.
Ihre Augen wurden groß, als sich ihre Blicke trafen. »Aber jetzt geht es mir gut«, sagte sie.
»Das ist schön.«
Sie leerte ihr Glas und schnitt eine Grimasse. Das war zwar nicht sonderlich komisch, aber Thorne lachte dennoch.
Sie stellte das Glas auf den Tisch zurück und fasste nach ihrer Handtasche. »Gehen wir etwas essen …«
Rooker starrte hoch zu der Spinne an der Decke und wünschte sich, es wäre lauter. Es war immer laut im Gefängnis, immer. Fünfhundert Männer machten selbst im Schlaf einen Heidenlärm. Tagsüber konnte das die Schmerzgrenze überschreiten. Das Getrampel in den Gängen und auf den Treppen, das Klirren von Metalleimern und Schlüsseln, das Stimmengehall von Zelle zu Zelle, von Stockwerk zu Stockwerk. Selbst das winzigste Geräusch – eine Gabel auf einem Teller, ein Stöhnen in der Nacht – klang laut und aggressiv. Als hätte die Wut, die überall zu spüren war, irgendwie die Luft selbst verändert, sodass sie durchlässiger wurde für den Lärm, ihn besser trug. Verzerrt, ohrenbetäubend. Man gewöhnte sich daran. Rooker hatte sich daran gewöhnt.
Doch hier war es totenstill.
Selbst die relative Ruhe im Trakt für gefährdete Häftlinge war eine Kakophonie gegen das hier. Die Neuankömmlinge dort machten einen ganz eigenen Lärm. Und die alten Knacker, die sie am Hals hatten, genauso. Sie steckten die alten Typen immer in den Gefährdeten-Trakt. Die mit den Schlaganfällen und die Alzheimerkandidaten, die nicht mehr allein zurechtkamen. Die stellten kein Problem dar, zumindest die meisten nicht, aber wehe, wenn es dunkel wurde. Dann fing das Räuspern und Husten an, und er hätte ihnen am liebsten ein Kissen auf ihre teigigen, schiefmäuligen Gesichter gedrückt.
Doch nun fehlte ihm genau das. Die Stille hielt ihn wach.
Er musste lächeln. In ein paar Wochen, wenn er rauskam, würde es Lärm genug geben. Wenn alles vorbei und er zu Hause war, wo immer das sein würde. Es würde still sein, wenn ihm danach war, und er würde Geräusche hören, die er sehr lange nicht gehört hatte. Den Lärm von Verkehr, Pubs und Fußballstadien.
Wenn alles vorbei war …
Die Gespräche mit Thorne und den anderen machten ihn fertig. Vor allem Thorne hatte so eine Art, ihn anzugehen, ihn ständig zu bedrängen, bis dieses ganze Erinnern und ständige Wiederholen ihn elend machte. Klar gehörte das dazu und war die Mühe wert, aber er hatte vergessen, wie sehr er sie hasste. Selbst wenn man ihr half, auf ihrer Seite stand, verhielt sich
Weitere Kostenlose Bücher