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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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entgegenblickten und dann unter die Hecke hoppelten. Friedhof Buitenveldert war berühmt für seine Kaninchen, die an den Pflanzen und Blumengestecken auf den Gräbern knabberten. Kein Hinterbliebener protestierte dagegen – es gehörte dazu.
    Ich versuchte, mir (vielleicht um mir ein wenig Gefühl wiederzugegeben) vorzustellen, wie ich einen siebenjährigenTonio auf die beiden Kaninchen aufmerksam gemacht hätte und wie er »och je« gesagt hätte, doch statt dessen sah ich ihn in dem Sitz an meinem Fahrradlenker sitzen, als Einjährigen in Frankreich, wie er mit ausgestrecktem Finger auf die Strohrollen am Ackerhang deutete und mit hoher Stimme rief: »Küh … Küh.«
    Es war nicht weit. Die makellos in Grau gekleideten jungen Männer stellten den Sarg auf die Absenkvorrichtung über dem offenen Grab, erwiesen ihm mit einem Neigen des Kopfes ihren Respekt und marschierten in federleichtem Tempo zwischen den Hecken davon. Sie schienen einer durchdachten Choreographie zu gehorchen, einem Ballett nicht unwürdig – nur hätten die sechs Tänzer dann unter ihrem Frack ein hellgraues Trikot getragen.
    Als alle in weitem Bogen um das Grab standen, trat ich einen Schritt vor, dicht an den Sarg. Es gelang mir nicht, einfach auf zwei Beinen aufrecht stehen zu bleiben. Mein ruheloser linker Fuß fand lockeren Halt auf einem Balken (möglicherweise eine alte Bahnschwelle), die die Grube einfaßte.
    »Ich werde erst ein paar Worte sagen«, begann ich, »und danach wird mein Bruder Frans seine Rede halten.«
    Die Dame vom Bestattungsunternehmen und der Friedhofsaufseher standen ein wenig abseits, in der Öffnung zweier Hecken, und sahen diskret zu.
    »Liebe Anwesende … Tonio hatte viele Talente, doch ein Talent für Streit war nicht dabei. Hinreichend Meinungsverschiedenheiten, reichlich Uneinigkeit, aber es ist mir während seiner ganzen Jugend nie gelungen, ernsthaft mit ihm aneinanderzugeraten. Beunruhigend. Nun gut, einmal war es soweit. Streit. Na ja, beinahe . Nach zwei abgebrochenen Studien schien nur noch wenig Bewegung in seinem Leben zu sein. Ich zitierte Tonio zu uns nach Hause und attackierte ihn wegen seines mangelnden Ehrgeizes. Selbst da kam es nicht zu einem richtigen Krach. Tonio verhinderte eine Eskalation, indem er beteuerte, er platze vor Ehrgeiz und werde das auchbeweisen. Zunächst einmal werde er sich, bevor er ein endgültiges Studium aufgreife, einen Job suchen, dann brauche er sich nicht ganz von seinen Eltern unterhalten zu lassen. Er brachte das so überzeugend vor, so verflixt charmant auch, daß es mir wieder nicht gelang, die Meinungsverschiedenheit zu einem richtigen Krach zwischen Vater und Sohn auswachsen zu lassen.«
    Auf dem Sarg lag das Biedermeiergesteck aus dem Musterbuch des Bestattungsunternehmens. Jedesmal, wenn mein Blick darauf fiel, hatte ich das Gefühl, ich wendete mich direkt an Tonio, und das wollte ich nicht. Mein Blick ging wieder hinauf zum blauen Himmel. Mein Fuß bewegte sich unaufhörlich, wie eigenständig, über den Balken.
    »Tonio hat Wort gehalten. Er nahm einen Job an, und im September des vorigen Jahres begann er mit großer Hingabe ein Studium der Fachrichtung Medien & Kultur. Letzten Mittwoch besuchte er uns. Er gab uns einen kleinen Einblick in die Zukunft, wie er sie für sich geplant hatte. Nach dem Bachelor wollte er seinen Master in Medientechnologie machen, wofür er dann regelmäßig zwischen Amsterdam und Den Haag und Amsterdam und Leiden würde pendeln müssen. Er hatte alles genau ausgetüftelt.«
8
     
    Die Amsterdamer Fotoakademie hatte er nach einem Jahr abgebrochen. Er wollte Fotografie studieren an der Königlichen Akademie in Den Haag. Um aufgenommen zu werden, mußte er eine Fotoserie zum Thema »Clubzugehörigkeit«, »Clubleben in irgendeiner Form« machen, und das so originell wie möglich.
    Der Sommer 2007 und damit die Zulassung zum neuen Studienjahr rückte näher. Um arbeiten zu können, hatte ich mich wieder einmal ins Château St. Gerlach zurückgezogen, aber Tonio wußte mich dort natürlich aufzutreiben. DieseAufgabe der Königlichen … er komme damit nicht ganz zurecht, so tat er telefonisch aus Amsterdam kund.
    »Ich hab eigentlich nicht so viel am Hut mit Clubs«, sagte er.
    »Na, dann zeig das doch in deiner Reportage«, sagte ich. »Niemand zwingt dich, jetzt plötzlich jeden Dienstagabend Jaß spielen zu gehen.«
    » Was spielen zu gehen?«
    Ich erzählte ihm die Geschichte meines Vaters, seines Opa Piet, der auch nichts mit

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