Tonio
unzufrieden gewesen, aber doch auch ein wenig enttäuscht.
Oft erhielten die bereits mit einer Zahl bezeichneten Daten nachträglich, wenn sie sich auf irgendeine Weise hervorgetan hatten, einen Beinamen. (Der Bruch. Das Glätten. Die Niederträchtige Leerzeile.) Die ersten fünf Tage dieses Plans würden nie einen Beinamen erlangen und auch keine Notiz über die Zahl der geschafften Seiten, genausowenig wie die Tage danach.
6
Viel stärker als das alte Amsterdam-Zuid schienen das Stadionviertel und Buitenveldert aus hellen Flächen zu bestehen, dazu gedacht, an einem Tag wie dem heutigen das überreichliche Sonnenlicht zu reflektieren. Als wir in die Fred. Roeskestraat einbogen, drehte ich mich zu meinem Schwiegervater um: »Mach dir keine Sorgen, Natan, ich bleibe ganz in deiner Nähe.«
Er nickte dankbar. Mirjam lenkte den Wagen auf den Parkplatz des Friedhofs Buitenveldert. Vor der rötlichen Backsteinmauer neben dem Eingangstor stand bereits ein Teil der Gesellschaft. Wir stiegen aus und gingen auf sie zu, langsam wegen Natan. Ob es an der Pille lag, wußte ich nicht mit Sicherheit zu sagen, jedenfalls tosten noch immer keinegroßen Emotionen in mir. Es gab eine schmerzliche Aufgabe zu erledigen. Ran und durch. Wir hatten keine große Zeremonie bestellt. Es würde nicht lange dauern. Danach würde ich darüber nachdenken, was das alles für mich bedeutete.
Die Dame vom Bestattungsunternehmen kam auf uns zu. Wir besprachen die Regie der schlichten Zusammenkunft. Ich würde kurz das Wort ergreifen und dann meinen Bruder auffordern, seine Rede zu halten. Ich entschuldigte mich: »Eben mal ein paar Leute begrüßen.«
Plötzlich stand ich vor meiner weinenden Schwiegermutter. Sie wurde von zwei Pflegerinnen aus dem Sint-Vitus-Heim gestützt.
»Der liebe Tonio«, schluchzte sie, »der noch nie einer Fliege etwas zuleide getan hat … warum? Warum?«
Ich küßte sie. »Wir sprechen gleich miteinander.«
Ich wechselte ein paar Worte mit meinem Bruder und seiner Frau. Mit meiner Schwester, die eine Perücke trug als Folge einer Chemo- und Strahlentherapie. Mit Tonios zwei besten Freunden: Jim und Jonas. Jim war mit seinem jüngeren Bruder und den Eltern da. Jonas war in Begleitung seiner Mutter gekommen. Befreundete Paare: Josje und Arie, Dick und Nelleke. Ich sagte zu Ronald, ich hätte ihn durch die Banstraat gehen sehen, auf dem Weg zur 16. »Als hättest du gegen das flach einfallende Sonnenlicht angekämpft«, sagte ich, aber er verstand das Bild nicht, und ich kam mir wie ein Idiot vor.
Nun fuhr, fast lautlos, ein hellgrauer Leichenwagen am Tor vor. Sechs junge Männer in hellgrauen Fräcken und hellgrauen Zylindern zogen den rotbraunen Sarg mit Tonios Leichnam heraus und nahmen ihn auf die Schultern. In perfektem Gleichschritt setzten sie sich in Bewegung. Ich schob meine Hand unter Natans Arm und führte ihn langsam hinter den Trägern her. Sie waren alle sechs gleich schlank, und daß sie so jung waren, hing zweifellos mit dem Alter des ihnen anvertrauten Toten zusammen.
Ich fragte mich, ob ich gut daran getan hatte, die Pille zu nehmen. Ich hatte, als ich sie mir zwecks Anfeuchtung unter die Zunge legte, kaum darüber nachgedacht. Sie würde, glaubte ich, die Schwere der Situation vielleicht etwas lindern können. Was ich jetzt empfand, war keine Teilnahmslosigkeit, sondern eher Leere – in mir und auch in dem Sarg. Zwei einander entsprechende Leerräume.
Wegen Natans schlurfenden Schritten mußten wir zurückgefallen sein. Auf einmal ging Mirjam vor uns, und Hinde, und ihre Mutter, noch immer gestützt, fast getragen, von den beiden kräftigen Pflegerinnen. Andere aus der Trauergesellschaft überholten uns links und rechts.
Die Sonne schien auf den sehr gepflegten Friedhof. Die kleine Prozession schlängelte sich durch die sorgfältig gestutzten Hecken. In meinem vom Medikament erkalteten Gehirn war Raum für Gedanken wie: Ein Friedhof wie ein Labyrinth, und dann so lange mit dem Sarg in Gängen ohne Ausgang rechtsumkehrt machen, bis im Herzen des Labyrinths das offene Grab gefunden ist und die bösen Geister auf eine falsche Spur gebracht sind . Ich fragte mich, wie der grauenvolle Schmerz der letzten Tage mich verlassen haben konnte, gerade jetzt, während der Gegenstand meines Verlusts vor mir her getragen wurde, mit dem Ziel, ihn für immer in der Erde verschwinden zu lassen.
7
Ich sah zwei Kaninchen auf dem Weg. Es rührte mich, wie sie reglos der sich langsam nähernden Prozession
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