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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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noch immer an der Tür. Jan de Hartog blickte regungslos auf die Szene, wobei sich auf sein Gesicht eine eigenartige, wie gemeißelte Abgeklärtheit legte und sein Blick etwas Visionäres annahm, als sähe er mehr als nur dieses Schauspiel und werde in der Unendlichkeit etwas Unscheinbaren gewahr, das unerwartet sichtbar geworden war.
    ›Das ist Gott‹, murmelte er.«
     
    Tonio fand das Fragment »schon irgendwie witzig«, bezweifelte aber, ob es ihm bei seiner Fotogeschichte helfen könne. »Die niederländische Literatur und ich«, sagte er, »das ist eine Katastrophe. Und ob dieser spastische Mann im Beth Shalom Gott ist … ich weiß nicht … das muß schon jeder für sich entscheiden.«
9
     
    Ich erzählte von dem mißglückten Elternabend zwei Wochen vor seinem Tod. Vom unerwartet engen Beisammensein in einem Lokal in der Staalstraat. Wie unaufdringlich er das Gespräch beherrscht hatte und wie gut in Form er gewesen war. Wie ich beim Abschied, schon fast im Taxi, zu Tonio zurückgegangen war, um ihm etwas Geld zuzustecken. Wie ich ihn, von dem Abend gerührt, umarmt und dreimal geküßt hatte und wie er dabei verlegen gegrinst hatte. Und wie ich später im Taxi, Tonio bereits von der Stadt verschluckt, gemerkt hatte, daß ich versäumt hatte, ihm das Geld zu geben.
    »Im nachhinein können wir sagen, aber es bleibt im nachhinein, daß wir da, mit dieser ungeschickten Umarmung, Abschied genommen hatten … auf eine Weise, die jetzt nicht mehr möglich ist. So war es gut. Adieu, mein lieber Junge.«
    Ich winkte Frans, daß er nun an der Reihe sei. Ich stellte mich neben Mirjam und strich ihr ganz kurz übers Haar. Vielleicht wurde von uns erwartet, daß wir uns laut weinend in die Arme fielen, doch das geschah nicht, und nicht , weil wir dafür zu zurückhaltend waren. Später zeigte sich, daß Mirjam das gleiche gedacht hatte. Der Kummer verhielt sich ruhig – aber doch mit jeder Faser gespannt, bereit, uns anzuspringen.
10
     
    »… Es klingt bitter, aber erst in der vergangenen Woche, nach seinem Unfall, hat ein nicht unwesentlicher Teil von Tonio für mich zu leben begonnen. Natürlich wußte ich, daß er bereits seit einigen Jahren fotografierte, wir hatten ihn sogar gebeten, Fotos von unserer Hochzeit zu machen. Doch viel mehr als sein treffendes Selbstporträt als Oscar Wilde hatte ich eigentlich noch nicht zu Gesicht bekommen.
    Diese Woche landete ich auf einer Website mit einer Auswahl seiner Fotos, und die trafen mich direkt in Herz und Kopf. Die speisenden alten Menschen im Speisesaal des Beth Shalom, das eindringliche Porträt Mirjams, der junge Junkie auf dem Bett im Halbdunkel, das stille Mädchen am Fenster, die unluganesischen Straßenbilder aus Lugano, nichtsahnende Menschen auf Festivals und auf dem Bücherball – überall scheint er die ›Rückseite‹ oder das ›Innere‹ einer Situation erforschen und bloßlegen zu wollen. Und das gelingt ihm auch, oft auf schmerzende Weise.
    Der Junge hat Talent.«
     
    »Hallo Tonio, guter Junge: Was machst du jetzt, womit bist du beschäftigt? Es würde mich nicht wundern, wenn du in diesem Moment die Rückseite des Lebens erforschtest. Und laut Fragen murmeltest wie zum Beispiel: ›Wie funktioniert das eigentlich? Was hat es damit auf sich?‹
    Uns wirst du auf jeden Fall immer beschäftigen, jetzt und für den Rest unseres Lebens. Oder, um einen uns beiden sehr vertrauten und sehr befreundeten Schriftsteller zu paraphrasieren: Du bist nicht tot .«
11
     
    Mit einer Heftigkeit, die sie häßlich machte, hämmerte meine Mutter uns immer wieder die Gefahren des Straßenverkehrs ein. Solange wir die Grundschule besuchten, durfte eine Fahrradtour sich nur innerhalb bestimmter Grenzen abspielen. Keine belebten Straßen überqueren. Nicht nahe am Kanal fahren.
    »Soll ich euch demnächst auf den Friedhof bringen?« rief sie, das Gesicht dicht vor unserem, wobei sie Speicheltropfen versprühte und sich die Handknöchel in die Stirn rammte.
    Seit sie sich von einer Freundin hatte verleiten lassen, im Sportzentrum De Smelen in ein Meter zwanzig tiefes Wasser zu gehen, das sie dann »an sich ziehen spürte«, war auch dasSchwimmbad verbotenes Terrain für uns. »Es zieht dich in die Tiefe … du ertrinkst. Da laß ich euch nicht hin.«
    Natürlich radelten wir dicht am Kanal entlang, manchmal so dicht am Ufer, daß das Schilf knackte. Wir überquerten den belebten Mierloseweg, ohne ihr davon zu erzählen. Und ins Schwimmbad kam man auch mit einer

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