Tonio
Clubs am Hut hatte, dafür um so mehr mit Kneipen, wogegen wiederum meine Mutter etwas hatte. Um wenigstens einen Abend pro Woche legal in die Kneipe zu können, trat er einem Jaßclub bei. Eines Abends gewann er bei diesem Kartenspiel ungewollt eine vom örtlichen Konditor gespendete Dose mit Butterkeksen: so eine große, viereckige Schachtel mit einem Nettoinhalt von fünf, sechs Kilo. Um den Sieg zu feiern, betrank er sich schamlos und mußte dann mit seinem Gewinn nach Hause. Weil ich immer als erster aufstand, fand ich am nächsten Morgen eine verbeulte und gesprungene Keksdose auf dem Küchentisch. Sie war zur Hälfte leer, und was sich noch darin befand, war größtenteils zerkrümelt. Als ich noch vor der Schule von meiner Mutter zum Bäcker geschickt wurde, um ein Brot zu kaufen, sah ich unterwegs auf dem Bürgersteig in unregelmäßigen Abständen Häufchen von Kekskrümeln: genau an den Stellen, an denen Opa Piet mit seiner Beute hingefallen war. Die Kneipe, in der er seinen Triumph gefeiert hatte, lag in der Nähe der Bäckerei, wo ich das Brot kaufen sollte.
»Wenn ich eine Fotoserie über einen Club machen müßte, Tonio, dann würde ich so einen Jaßverein nehmen. Du fängst mit dem Kartenspiel in der Kneipe an. Dort , auf einem extra Tisch, steht die Trophäe: die Keksdose, sagen wir mal. Der Gewinner erlebt seine schönste Stunde … und dann, wenn er mit seiner Trophäe auf dem Nachhauseweg ist, fotografierst du Häufchen für Häufchen seinen Niedergang. Den sich Schritt für Schritt verkrümelnden Gewinn.«
Der arme Tonio konnte mit meinem Vorschlag wenig anfangen. »Die fünfziger Jahre, Adri … mit so einem historischen Thema kann ich in Den Haag nicht ankommen.«
Dann trug er zögernd eine bereits verworfene Idee vor. »Opa Natan, der ißt doch an vier Abenden pro Woche in einer jüdischen Einrichtung, nicht? Das sind doch immer dieselben Leute … eine Art Eßclub?«
Am Telefon arbeiteten wir das Konzept weiter aus. Tonio machte schließlich eine wunderbare, intime, traurig-stille Fotoserie über die feste Eßrunde im Beth Shalom. Im Mittelpunkt der Serie stand sein eigener Großvater, den er schon zu Hause fotografierte, wie er auf den Minibus des Sozialdienstes Connexxion wartete, und wieder beim Verlassen des Beth Shalom, wenn Mirjam ihren Vater abholte.
Es war eigentlich kein Thema für einen achtzehnjährigen Fotografen in spe, der das neue Gesicht der Welt so ungeschminkt wie möglich festhalten wollte. Aber ach, welch intime Traurigkeit gab er der Serie. Und mit wieviel Zärtlichkeit und Mitgefühl … Die Festwimpel mit dem Davidstern als Girlanden an der Decke (sie hingen dort das ganze Jahr hindurch). Die roten Plastikwasserkannen auf den Eßtischen (der magische rote Lichtfleck auf der Tafel). Die einsam essende Dame, die Serviette hinter der schweren Halskette eingesteckt. Opa Natan, barhäuptig und in Hemdsärmeln und Hosenträgern, an einem vollen Tisch zwischen Männern in Sakko und mit der Kipa auf dem Kopf …
Zwischen den einzelnen Sitzungen hielt Tonio Rücksprache mit mir. Er fragte sich, ob es respektlos sei, einen spastischen Mann, bei dem das Essen manchmal in alle Richtungen flog, zu fotografieren. Ich hatte Band 6 der Gesammelten Werke von Gerard Reve bei mir, mit den Miszellen. Zur Inspiration las ich Tonio ein Fragment aus der Erzählung Drie woorden (Drei Worte) vor.
Es ist 1940. Der noch sehr junge Autor befindet sich mit dem Kollegen Jan de Hartog in einer Garküche in der Spuistraat.
»Jetzt kommt‘s, Tonio … vielleicht hilft es dir.«
»Zwei mit uniformähnlichen weißen Kitteln bekleidete Frauen, die hier offenbar das Zepter schwangen, waren dabei, einen alten, gebrechlichen Mann an seinen Platz an einem der Tische zu schleppen und zu hieven. Als er mehr oder weniger saß, band ihm eine der Frauen ein riesengroßes, grau-blau kariertes, zerschlissenes gemeindeeigenes Handtuch um den Hals. Die andere Frau kam mit einer kleinen Abwaschschüssel aus Zink, die sie vor ihm auf den Tisch stellte. Sollte er gewaschen und rasiert werden? Nein: Die erste Frau stellte in die Schüssel einen tiefen Teller mit Essen, und der alte Mann begann, leise grummelnd zu essen. Ein großer Teil dessen, was er mit seinem Löffel – mit einer Gabel hätte er überhaupt nichts ausrichten können – zu seinem Mund führte, fiel wieder in den Teller oder daneben, aber noch innerhalb der Schüssel, wo der Mann es unangefochten wieder herausfischen konnte.
Wir standen
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