Tonio
geliehenen Jahreskarte.
Niemand von uns mußte auf den Friedhof gebracht werden – ja, mein Vater um ein Haar, nachdem er sternhagelvoll mit seinem Moped in einen Graben gefahren und vom Personal der Ambulanz schon für tot erklärt worden war.
Der größte Alptraum meiner Mutter wurde erst eine Generation später Wirklichkeit. Ich mußte ihren Enkel zum Friedhof bringen. Weil ich ihm nicht hysterisch genug die Gefahren des Straßenverkehrs eingeschärft hatte? Hatte das tödlich besorgte Muttertier auf dem Friedhof Buitenveldert in Abwesenheit doch noch recht bekommen?
12
Mir gingen ein paar Zeilen des Gedichts On My First Son von Ben Jonson durch den Kopf, das mir der Dichter Menno Wigman am Tag zuvor als Trost geschickt hatte.
Farewell, thou child of my right hand, and joy;
My sin was too much hope of thee, loved boy,
Seven years thou wert lent to me, and I thee pay,
Exacted by thy fate, on the just day.
Sieben Jahre, das war in Tonios Fall das Dreifache, aber sonst hatte Jonson meinen Verlust vor vierhundert Jahren ziemlich exakt in Worte gefaßt.
O, could I lose all father, now …
Der das Gemüt kühlenden und dämpfenden Pille zum Trotz war da auf einmal dieser Krampf in der Herzgegend. Hatten Mirjam und ich uns nicht zu selbstverständlich für so eine kahle Beerdigung entschieden? Hatten wir damit eindeutig in Tonios Sinn gehandelt? Waren wir ihm damit wirklich gerecht geworden?
Auch ein Einundzwanzigjähriger macht sich in einer Anwandlung von Melancholie schon mal Gedanken über die eigene Beerdigung. Wen sah Tonio dabei am Grab stehen? Zumindest die paar Freunde, die jetzt auch da waren. Mädchen? Wenn ich mich umschaute, sah ich nur Frauen mittleren Alters, abgesehen von meiner betagten Schwiegermutter. Es hatte Mädchen in seinem Leben gegeben. Er hatte Verliebtheiten gekannt. So wie ich mich an den Tonio der letzten Woche erinnerte, war nicht auszuschließen, daß er sich gerade neu verliebte. Das Mädchen von dem Fotoshooting – wir kannten nicht einmal ihren Namen, aber … hätten wir uns nicht stärker anstrengen müssen, sie ausfindig zu machen?
»Wer ist denn der dritte?«
Wir hatten in unserem von Panik und Kummer eingeschränkten Handeln Tonio eine weinende Liebste am offenen Grab vorenthalten. Zu dritt hätten wir hier stehen müssen: Mirjam, ich und das Fotomädchen, das dann nicht länger namenlos wäre.
Auch wenn sich das nicht wiedergutmachen ließ, ich mußte versuchen, sie zu finden und auszufragen, mußte versuchen herauszubekommen, ob sie ihm etwas bedeutet hatte … und er ihr … Falls nötig, würden wir zusammen mit ihr hier trauern, in Gottes Namen dann eben an einem bis dahin zugeschaufelten Grab.
13
Und wieder kamen mir ein paar Zeilen aus Ben Jonsons On My First Son in den Sinn.
Rest in soft peace, and, asked, say here doth lie
Ben Jonson his best piece of poetry.
Wenn ich mich nicht täuschte, schimmerte hier Ironie zwischen den traurigen Worten durch. »Hier liegt mein bestes Stück Prosa …« Würde ich mich trauen, das im Ernst von Tonio zu sagen? Nein, aber ich konnte versuchen, ihn in Prosa lebendig zu halten. Nicht so, daß die Leute sagen würden: seine beste Prosa … Sondern daß ich ihnen, in welcher Form auch immer, einen Tonio aus Fleisch und Blut liefern würde.
Ich umarmte Frans, fast neidisch auf den Schluchzer, den ich dabei in ihm losbrechen fühlte (oder hörte).
Ein Friedhofsangestellter bediente den Hebel, der die Absenkvorrichtung in Bewegung setzte. Langsam, beruhigend nüchtern surrend wie ein Haushaltsgerät, sank der Sarg mit dem Leichnam meines Sohnes in die exakt ausgemessene Grube. Ich wollte mich zu einem passenden Gedanken zwingen, doch es kam nichts Brauchbares, nur in Worte übersetzte naheliegende Beobachtungen wie: »Tonios sterbliche Überreste werden der Erde anvertraut.« Ganz im Stil der Bildunterschriften in meinen alten Jules-Verne-Bänden: »Das rettungslose Schiff ist aufrecht gesunken.«
Ich klammerte mich nicht an Mirjam fest und sie sich nicht an mir. Dennoch dachten wir beide so etwas Ähnliches wie: Ich weiß, wo ich ihn/sie nachher finden kann.
»Ich wollte doch noch etwas sagen«, ertönte auf einmal in der metallisch surrenden Stille die weinerliche Stimme meiner Schwiegermutter. Sie trat einen Schritt vor in Richtung des Grabs, wofür sie einige Kraft aufbringen mußte, denn die beiden stämmigen Damen aus dem Sint-Vitus-Heim hingen an ihren Armen. »Lieber Tonio, ich hoffe,
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