Tonio
mich auf vertrautem Terrain: So war es öfter am Morgen, bevor ich die Treppe zu meinem Arbeitszimmer hinaufging, um die ersten Worte eines neuen Kapitels niederzuschreiben.
»Heute beerdige ich meinen Sohn.«
Das war vorläufig eine Feststellung, kaum mehr. Damit ging keine krankmachende Gemütsbewegung einher. Bevor ich die von Mirjam angebotene Pille nahm, um ruhig zu werden, war ich bereits ruhig. Beim Rasieren zitterten meine Hände keinen Moment lang.
Während ich mich anzog, repetierte ich im Geist die kurze Ansprache, die ich am Grab halten wollte. Die ganze Woche über hatte ich wie besessen alle mir bekannten Fakten in Verbindung mit dem Unglück aufs Papier geworfen und dazu alles, woran ich mich von Tonios beiden letzten Besuchen in seinem Elternhaus erinnerte. Ich wollte alles festhalten, was mir bei der Rekonstruierung – ich wußte noch nicht, warum – des Schlußsteins seines Lebens nützte. Doch eine Grabrede zu schreiben, dazu hatte ich mich nicht überwinden können. Mein Bruder würde eine längere Rede halten, das beruhigte mich. Ich war bereits seit Tagen mit Tonio inein hektisches Gespräch verwickelt – das hatte mich verbal erschöpft.
Seit unserer vorzeitigen Rückkehr aus Lugano im vergangenen Mai war ich kaum mehr vor der Tür gewesen. Ich hatte in all diesen Monaten im Haus selten etwas anderes getragen als eine schlabbrige Trainingshose und darüber ein weites Holzfällerhemd. Ja, für die Premiere des Films Het leven uit een dag hatte ich ein dunkles Samtjackett gekauft, das seitdem auf demselben Bügel an derselben Schranktür hängen geblieben war, die passende Krawatte um den Haken drapiert.
Tonio war, stilvoll gekleidet, ebenfalls auf der Premiere gewesen – mit Marjan. Ein elegantes Mädchen, das er von der Amsterdamer Fotoakademie kannte, etwas älter als er. Eine feste Beziehung hatte sich (zu meinem leisen Bedauern) nie daraus entwickelt, doch Tonio nahm sie immer zu den offizielleren Anlässen wie dem Bücherball mit, wenn wir zusätzliche Karten für die beiden hatten ergattern können.
An jenem Abend der Premiere in Den Haag fiel mir auf, wieviel erwachsener und selbstsicherer er geworden war. Der Smoking stand ihm gut. Tonio war gesprächig, lachlustig, schlagfertig. Nach der Vorstellung setzte er sich mit Marjan zu den Musikern der Popgruppe Novastar, auf deren Konto ein Teil der Filmmusik ging. Sie amüsierten sich bestens. Später fuhren sie mit uns im Großraumtaxi, das die ganze Gesellschaft nach Amsterdam beförderte, zur Premierenfeier im De Kring.
Jetzt, da ich ihn beerdigen würde, mußte es in diesem letzten Jackett sein, in dem er seinen Vater gesehen hatte, zusammen mit der dazugehörigen Krawatte.
Während ich an der Bar im De Kring die reichlich verteilten Getränkebons mit meinem Bruder auf den Kopf haute, tranken und unterhielten sich Tonio und Marjan in ihrer eigenen Ecke. Dort war es lebendig. Die Filmcrew tanzte House. Der Regisseur kam von Zeit zu Zeit und versorgte uns mit neuen Bons.
Marjan wohnte, wie ich wußte, noch bei ihren Eltern in Noordwijk und würde bei einer Freundin in Amsterdam übernachten. Es wurde später und später. Gegen Ende des Festes fiel der Beschluß, Marjan würde in Tonios Wohnung auf der Couch schlafen. Sie wollten mit dem Bus nach De Baarsjes fahren oder zu Fuß gehen, das war nicht ganz klar.
Als die beiden vor mir standen, um sich zu verabschieden, tat mir Tonio plötzlich leid. Wenn er ordentlich gebechert hatte, schwankte er immer fast unmerklich auf den Fußballen vor und zurück. Er sah bleich aus, mit einem kleinen, dümmlichen Grinsen in den Mundwinkeln. So geschmeidig er sich den ganzen Abend bewegt hatte, so steif und hölzern stand er jetzt da, mit etwas vorgebeugten Schultern. Marjan war noch genauso locker-fröhlich wie den ganzen Nachmittag und Abend über und zeigte sich Tonio gegenüber nachsichtig. Wie er mir glich. Meine Überredungskraft hatte auch zu oft aus dem Glas kommen müssen. In Tonios Alter hatte ich mich in den Versen von Boudewijn de Groot wiedererkannt: »… meine Pinte/in der ich zuviel trank, um einer Frau zu imponieren/und dann die Prügel bezog, die ich verdiente.«
Ich steckte ihm etwas Geld zu, dann konnten sie ein Taxi nehmen. Damit verschwand er wieder für Wochen aus meinem Leben.
5
Die Beerdigung war für zehn Uhr angesetzt. Stupide Banalitäten: Um Viertel nach neun stützte ich mich mit den Ellbogen auf die Balkonbrüstung im zweiten Stock, um mir die Nägel zu
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