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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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schneiden. Durch die Lücke zwischen den Häusern sah ich Hausfreund Ronald Sales in der Banstraat vorbeigehen. Er hatte 2001 das Porträt des dreizehnjährigen Tonio zu meinem fünfzigsten Geburtstag gezeichnet.Es hing im Eßzimmer, das wir seitdem den Salon de Sales nannten. Die Erinnerung an einen geheimnisvoll lachenden Tonio, der mir am fünfzehnten Oktober das gerahmte und eingepackte Porträt brachte, mußte ausreichen, damit ich jetzt vom Balkon sprang. Die bewußtseinsverengende Pille verhinderte es.
    Ronald ging leicht nach vorn gebeugt, als müsse er gegen das frühe, staubige Sonnenlicht ankämpfen wie gegen starken Wind. Natürlich, er war, als einer der wenigen Geladenen, auf dem Weg zur Haltestelle der Linie 16 in der De Lairessestraat. Es hatte etwas fast Gemütliches. Viel fehlte nicht, und ich hätte seinen Namen gerufen und die Hand gehoben: »Ich seh dich gleich auf dem Friedhof.«
    Ich beendete ruhig das Schneiden meiner zu lang gewordenen Fingernägel, die mich schon die ganze Woche beim Tippen auf der elektrischen Schreibmaschine behindert hatten. Weil ich meine Notizen über Tonio möglichst schnell zu Papier bringen wollte, hatte ich mit beiden Zeigefingern häufiger danebengehauen, wodurch die Nagelhäutchen eingerissen waren. Das Bild von Tonios regloser Hand am Rand seines Totenbetts drängte sich zum wiederholten Mal in dieser Woche auf. Die schmuddeligen Finger. Die Nägel nicht zu lang, dafür mit Trauerrändern. Nein, ich werde seine Hand jetzt nicht mit dem Umschlag einer Trauerkarte vergleichen, das ist vorbei.
    Und ja, Assoziationen gab es mehr als genug, ich wußte, daß die Nägel an Händen und Füßen eines Leichnams noch eine ganze Weile weiterwachsen, genau wie die Haare an Kopf und Körper. Der Sarg des jung verstorbenen Dichters Jacques Perk wurde, vor der Umbettung, in Anwesenheit von dessen Vater geöffnet. Dieser wandte sich schmerzlich berührt ab: »Dieser Bart … dieser Bart!«
    Mein Vater hatte geraume Zeit nach der Befreiung Eindhovens tief im Wald der Soner Berge die Leiche eines Fallschirmjägers gefunden, die an einem Baumwipfel hing. Das erste, was ihm auffiel, waren die undisziplinarisch langen Nägel, mit denen kein Fallschirmspringer seinen Schirm hätte öffnen können.
    Die ganze Woche über hatte ich, jedesmal wenn die Klingel ging, die beiden jungen Polizeibeamten vor mir gesehen. Kritischer Zustand . Als es jetzt gegen halb zehn klingelte, erschrak ich nicht, wußte ich doch, es war Hinde, die mit uns zum Friedhof fahren wollte. Sogar diese Unheilsglocke ließ sich durch meine von Mirjams fataler Pille erzwungene innere Ruhe bändigen.
    Als erstes in die Lomanstraat, um meinen Schwiegervater abzuholen. Es ist eine dunkle Straße, das ganze Jahr über. Natan hatte die Lampe, die er meist im Wohnzimmer brennen ließ, bereits gelöscht. Aus der Dämmerung trat er ans Fenster. An dem, was von seinem Oberkörper noch über die halben Scheibengardinen ragte, konnte ich erkennen, daß er weiter geschrumpft war. Siebenundneunzig. Er winkte zum Zeichen, daß er bereit sei. Hinde stieg aus, um ihren Vater abzuholen.
    Dies war das Haus, in dem Tonio in den Zeiten, in denen Mirjam und ich häufig ausgingen, ein Wochenende nach dem anderen verbracht hatte. Nie kam eine Klage über seine Lippen. Am Mittwoch vor Pfingsten hatte er Opa Natan noch besucht, was er öfter, unregelmäßig, tat. Ein kleiner Schwatz, und das zusätzliche Taschengeld, unter Protest angenommen, war natürlich eine nette Dreingabe. Wie er seinerzeit, ‘93, die Trennung seiner alten Großeltern erlebt hatte, darüber hatte er sich nie geäußert.
    Natan zog die Haustür hinter sich zu und faßte noch einmal an den Knauf. Er ließ sich von seiner älteren Tochter über die Straße geleiten, schlurfend, zu Boden blickend. Am Auto angekommen, sah er auf, und bei Mirjams und meinem Anblick erschien auf seinem blassen, bekümmerten Gesichtein Lächeln, an dem seine feuchten Augen nicht beteiligt waren. Ich stieg aus und half ihm hinten ins Auto.
    »So«, sagte er, als er saß.
     
    Während der Fahrt waren meine Gedanken bei dem im Stich gelassenen Arbeitsplan. Der heutige Tag, Freitag, der 28. Mai, stand als »Tag 5« darin. Es war mehr als eine Bezeichnung – so etwas wie der Eigenname des betreffenden Datums. Es bedeutete so viel wie: Heute Abend Ein Zwanzigstel Geschafft . Wenn die ersten fünf Tage des Plans mir fünfundzwanzig neue Seiten geliefert hätten, das Minimum, wäre ich nicht

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