Tonio
blinden Schicksal den Weg zu versperren, das rief das Gefühl des Verrats hervor. Und wenn ich den Zusammenstoß nicht hätte verhindern können, hätte ich wenigstens dasein müssen, um neben meinem geliebten Jungen, der blutend und bewußtlos auf dem Asphalt lag, niederzuknien.
Ich war nicht da. Ich lag im Bett.
Das war mein Verrat.
August 2002 . Mirjam wollte ein Bresse-Huhn kaufen, am liebsten ein fertig zubereitetes, und so landeten wir an einem von warmem Regen erfüllten Sommervormittag in Bourg-en-Bresse. Bourg-en-Bresse: dann auch die Kathedrale besichtigen. Wir spazierten zu dritt durchs Zentrum – und da ragte sie auf einmal, viel näher als erwartet, am Ende einer alten, schmalen Seitenstraße auf: groß, dunkel, wuchtig. Während ich fasziniert zu ihr aufschaute, ging ich langsam auf sie zu – und lag plötzlich längelang auf dem Pflaster. Gestolpert über einen der kleinen Betonpfähle, die die Stadtverwaltung zwischen die mittelalterlichen Katzenköpfe gesetzt hatte, um das Parken in der Gasse zu verhindern. Ein lauter Schmerzensschrei: Ich hatte mir das Schienbein am achteckigen Beton aufgeschürft.
Selbst beinahe weinend, begann Tonio an mir zu zerren, um mir aufzuhelfen. Weil ich so laut geschrien hatte, dachte er, ich hätte mir etwas gebrochen (wie zuvor im selben Jahr den Fuß und die Schulter). Bleich geworden unter seinem braunen Teint, hielt er, als ich wieder stand, noch eine ganze Weile lieb und sorgsam meinen Arm fest. Um das vor sich selbst zu verantworten, verwandelte er schnell seine zärtliche Besorgtheit in resolute Aufgebrachtheit.
»Die haben sie hier ja nicht alle«, sagte er, während wieder Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. »Die wissen doch, daß die Leute beim Laufen zur Kirche hochschauen.«
14
Ich hatte im Laufe meines Lebens eine problematische Beziehung zum Tod entwickelt. Ich hielt mich abseits.
Jahrelang war es der Tod gewesen, der sich abseits hielt. Meine Großeltern väterlicherseits waren bereits vor meiner Geburt gestorben, die von Mutters Seite damals noch jung und nicht auf den Tod krank. Meine Eltern überlebten beide mit ungefähr dreißig eine schwere Magenoperation. Mein Bruder und meine Schwester fielen nicht dem Straßenverkehr zum Opfer, ebensowenig wie meine Freunde.
Der Tod trat nur auf Distanz in Erscheinung. Der aus Indonesien stammende Nachbar von gegenüber. Die kleine Tochter der Nachbarn nebenan. Ein Freund eines Freundes.
Und als der Tod näher rückte, ging ich ihm aus dem Weg. Mein Vater und meine Mutter hatten beide ein langes Sterbelager zu ertragen: Ich war nicht oft bei ihnen. Als Tonio, zehn Jahre alt, verkündete, er wolle Oma Toos kein letztes Mal und dazu noch tot sehen, leistete ich ihm dankbar Gesellschaft, während die ganze Familie einen letzten Blick auf meine Mutter in ihrem Sarg warf, bevor er geschlossen wurde. Ich saß vor der Totenhalle des Krematoriums auf einer Bank. Tonio stand zwischen meinen gespreizten Knien, und so hielt ich ihn an mich gedrückt. Er zwang mein Kinn hoch, um an meinen Augen zu sehen, ob ich weinte, und falls ja: wie schlimm. Nicht sehr. Feuchte Augen. Er schaffte es, ungefähr so verhalten zu weinen wie ich. Als ich merkte, daß er, mit welcher inneren Abklemm-Methode auch immer, seinen Tränenfluß regulierte, drückte ich ihn noch inniger an mich. »Adri, nicht so fe-h-est .«
Bei Beerdigungen und Einäscherungen sehnte ich mich immer nach dem anschließenden Beisammensein, am liebsten in einer Kneipe, wo der Todesgeschmack ungehemmt weggespült werden durfte.
15
Bis auf Jims kleinen Bruder (der in die Schule mußte) und Jonas‘ Mutter kamen alle noch mit zu uns. Mirjam hatte bei Pasteuning Wein und belegte Brötchen bestellt, die auf Abruf angeliefert werden sollten.
Mirjam und ich nahmen wie auf dem Hinweg Natan und Hinde im Auto mit. Unsere Heimkehr nach der Beisetzung hätte nicht weniger aufsehenerregend sein können, und genauso sollte es sein.
Was auf dem Friedhof wie eine Handvoll Menschen ausgesehen hatte, füllte jetzt, wie sich zeigte, ein ganzes Wohnzimmer. Pasteuning brachte die Bestellung so schnell, daß man hätte meinen können, der Fahrer habe in einem Lieferwagen vor der Tür gewartet.
Ich verkroch mich wieder auf meinen Stammplatz, die durchgesessene Couchecke, da fühlte ich mich am sichersten. Obwohl, meine Schwiegermutter setzte sich auf die benachbarte Chaiselongue und nahm ihre Konversationshaltung ein.
»Adri, nur mal ‘ne Frage, warum ein
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