Tonio
bald bei dir zu sein. Ich will nicht weiterleben. Ich komme bald zu dir.«
Der Lift mit dem Sarg hatte seinen tiefsten Punkt erreicht. Das Surren verstummte. Jetzt war nur noch das Weinen meiner Schwiegermutter zu hören, unterbrochen von gestammelten Satzfetzen, doch die waren nicht zu verstehen. Die Frau von dem Bestattungsunternehmen trat vor und bedeutete uns, daß wir, falls gewünscht, mit einer langstieligen Schaufel Sand ins Grab streuen konnten. Mirjam tat es als erste, gefolgt von mir.
Anstatt auf den Ausgang zuzusteuern, ging ich auf die Handvoll Anwesenden zu. Ich strich Jims jüngerem Bruder Kaz, der heulend dastand, über die Nackenhaare. Um das gleiche bei Tonios Freund Jonas zu tun, hätte ich weit hinauflangen müssen, so sehr war er seit ihrer Schulzeit gewachsen. Ich kniff ihn tröstend in den Oberarm. In ihren letzten Gymnasiumsjahren war Jonas fast jeden Freitagabend zu Tonio gekommen und über Nacht geblieben. Allmählich schmuggelten sie Bier ins Haus über die Ration hinaus, die wir ihnen zugestanden. Sie hielten es für schön oder cool, zu trinken, bis ihnen schlecht wurde. Endlos schwatzen, gemeinsam Filme angucken. Ich stand manchmal eine ganze Weile auf dem Flur und lauschte ihren aufgedrehten Stimmen, dem lauten Lachen, und versuchte, nicht daran zu denken, daß das eines Tages aufhören würde, wenn sich nach dem Abitur ihre Wege trennten.
Während die Sandschaufel von Hand zu Hand wanderte, ging ich kurz zu meiner Schwiegermutter, die, eingeklemmt zwischen ihren Betreuerinnen, am selben Fleck stehengeblieben war.
»Adri, der liebe Tonio …« Sie begann wieder zu weinen. »Ich will ohne ihn nicht mehr leben. Ich möchte sterben. Ich gehe zu Tonio.«
Eine der Helferinnen beruhigte mich mit gesenkten Lidern und leicht gespitzten Lippen, als wolle sie sagen, soschlimm würde es nicht werden. Ich sah mich um. Nach ihrer Schaufel Sand begaben sich die Anwesenden in kleinen Gruppen zum Ausgang. Wieder fragte ich mich, ob ich Tonio nicht etwas vorenthalten hatte, indem ich ihm so eine kurze, bescheidene Beerdigung zugedacht hatte. Wenn ich seit dem Morgen, trotz der abscheulichen Pille, etwas gefühlt hatte, dann eine vage Angst: daß ich ihm während seines Lebens nicht gerecht geworden war und jetzt, nach seinem Tod, noch weniger.
Thomas Mann war ein Gott für mich gewesen. Ich konnte ihn nicht mehr lesen, nachdem ich einer Biographie entnommen hatte, daß er nach dem Selbstmord seines Sohnes Klaus nicht zur Beerdigung nach Cannes gefahren war. Er entschied, eine Lesereise durch Skandinavien nicht zu unterbrechen.
Ich hatte soeben meinen Sohn beerdigt. Aber war ich dabei auch anwesend gewesen?
Ein Schriftsteller, nicht Thomas Mann, hatte einmal das Gefühl des Verrats beschrieben, das einen befällt, nachdem man einen Nahestehenden beerdigt hat – nachdem man, buchstäblich, dem noch offenen Grab den Rücken zugewandt hat, um den Verstorbenen darin in der neuen Einsamkeit seinem Schicksal zu überlassen. (Nun ja, Schicksal. Viel mehr Schicksal, als Feuchtigkeit und Maden für den Toten in petto hatten, war nicht mehr möglich.) Ich stellte mir die Frage, ob ich einen ähnlichen Verrat empfand, während ich mich in Begleitung von Freund Ronald vom Grab weg bewegte. Tonio in der neuen Einsamkeit. Wenn ich ehrlich war, mußte ich mir eingestehen, daß ich nicht mehr Verrat empfand, als ich, unter dem Einfluß des von dem Schriftsteller formulierten Gedankens, zu fühlen versuchte . Nie mehr würde ich meinen Schmerz durch eine ordinäre Pille dämpfen.
»Hier irgendwo ist auch René van der Land beerdigt«, sagte Ronald und machte eine unbestimmte Handbewegung.Als Sohn von Lucas van der Land (»Jaap« in Die Abende von Gerard Reve) war René als »das Baby aus Die Abende « bekannt: Hauptfigur Frits van Egters verleiht dem ersten Geburtstag des Kindes Glanz mit einem günstig erstandenen Trinkbecher, in dem er einen Apfel festgeklemmt hat. Ronald kannte René von der Rietveld Akademie. Sie waren gute Freunde. ‘97 starb René, mit einundfünfzig Jahren. Das Buch hatte ihn überlebt.
Ich spulte für Ronald lustlos einige Zitate aus der Geburtstagsepisode herunter ( »Sieh mal einer an«, sagte er, »dazu einen Becher und Schokoladeriegel, aber, aber.« »Und einen Apfel«, sagte Frits .), doch die Sache mit dem Verrat ließ mich nicht los. Ich kam mir als Verräter an Tonio vor, der einsam durch die Pfingstnacht fuhr. Daß ich nicht auf der Stadhouderskade gewesen war, um dem
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