Tonio
Während sie sich vor dem dreiundzwanzigsten Mai still verhielten (eine unangenehme Eigenschaft von Vorzeichen), geben sie schon seit Wochen,zu spät, um zu alarmieren, ein nachdrückliches Sirren von sich. Sie summen an meinen Schläfen und lassen mich keinen Moment in Ruhe. Es sind lästige Insekten, und sie scheinen sich in dem Maß unaufhörlich zu vermehren, wie meine Schuldgefühle zunehmen.
Die Mehrzahl all dieser Omina habe ich damals nicht wahrgenommen. Zu auffällig als Symbol getarnte Warnungen schlug ich in den Wind. Andere bastelte ich mir selbst zusammen, weshalb ich sie nicht als Vorzeichen betrachten wollte.
Ich habe verschiedene Requiems geschrieben: für zwei Jugendfreunde, für meinen Vater, für meine Mutter, für einen Kollegen, eines sogar (das kürzeste) für eine totgebissene Katze. Nie kam mir der Gedanke, eines Tages ein Requiem für meinen eigenen Sohn schreiben zu müssen. Nun wirken die früheren fünf wie eine Art prophezeiender Fingerübung für das, was ich jetzt aus Notwendigkeit, als Überlebensstrategie, betreibe.
Auch Der Widerborst , die Erzählung von einem Cousin, der sich auf der Flucht vor der Polizei an einem Baum zu Tode fuhr, war im Grunde ein solches Requiem: eine Novelle über die problembeladene Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn, die für den Sohn tödlich endete. Ich besaß anscheinend nicht genug Phantasie, um mir vorzustellen, daß Tonio, auch nur ein verletzlicher junger Mann in der Entwicklung, das Schicksal meines Cousins teilen könnte, sonst hätte ich die Widmung weggelassen.
Am Ende seiner Grabrede zitierte mein Bruder den Schlußsatz von Der Widerborst : »Er ist nicht tot.« Frans hielt mir später am selben Tag vor, daß ich die Novelle Tonio gewidmet hatte. »Das ist mir aufgefallen«, sagte er, »weil du in der Zeit deine Bücher immer Tonio und Mirjam gewidmet hast.«
Ich schaute sofort nach. » Für meinen Sohn Tonio .« Er hatte recht.
»Es ist eindeutig eine Novelle über einen Vater und seinen Sohn«, sagte ich. »Offenbar wollte ich das bis in die Widmung hinein klarmachen.«
Es war abscheulich. Eine erste Fassung von Der Widerborst , damals noch Mit gelöschten Lichtern betitelt, hatte ich in einem langen Brief an meinen Bruder niedergeschrieben, in jenem Sommer 1989, den ich mit Mirjam und Tonio im Schulhaus von Marsalès verbrachte. Tonio hatte gerade seinen ersten Geburtstag gefeiert. Für die Hauptfigur Robby stand mein Cousin Willy Modell, der im Jahr zuvor auf mehr oder weniger gleiche Weise, in der Tat mit gelöschten Lichtern, umgekommen war. Ich hatte dem kleinen Robby zu Beginn der Novelle auch Züge des sechsjährigen Robin van Persie verliehen, der manchmal mitsamt seinen Schwestern auf dem Gelände des Schulhauses auftauchte. Eine bestimmte scheue Dreistigkeit … eine verlegene Unerschrockenheit …
Daß ich die Erzählung zweieinhalb Jahre später meinem Tonio widmete, betrachte ich heute als arrogante Art und Weise, die Götter zu versuchen.
Von dem Bücherwochengeschenk Der Widerborst hatte ich seinerzeit ein paar Kartons mit zusätzlichen Exemplaren erhalten. Tonio verkaufte sie später auf dem Flohmarkt am Königinnentag im Vondelpark. Ich hatte ihm eingeschärft, pro Stück nicht mehr als einen Gulden zu verlangen. Auf seine Bitte hin hatte ich die Bücher signiert. Er zeigte seinen Kunden stolz, daß Der Widerborst ihm gewidmet war. »Für meinen Sohn Tonio.« Er war auch bereit, sein eigenes Autogramm hinzuzufügen, dann wurde es ein wenig teurer.
Als er mir am Abend des Königinnentags den Erlös in Höhe von fast dreihundert Gulden zeigte, fragte ich ihn erschrocken, wie viele Bücher er denn um Himmels willen verkauft habe. Nun, es seien noch welche übrig – für nächstes Jahr. Er hatte am Morgen mit zweieinhalb Gulden pro Stück begonnen. Sie gingen so schnell weg, daß er den Preis auffünf Gulden erhöht hatte, später auf sieben fünfzig. »Niemand fand das unverschämt.«
»Aber ich. Verdammt noch mal, Tonio, ich hatte dir gesagt, es muß ein Gag bleiben. Ich schäme mich zu Tode.«
»Adri, ein Gulden … das lohnt sich doch nicht.«
»Für dich , meinst du wohl.«
18
Dick hatte seine Flasche Noilly Prat geleert und saß jetzt mit langen Zähnen vor einem Glas voll in der Tat ekligem, gewöhnlichem Wermut, dessen bittersüßen Geschmack er damit kompensierte, daß er von Zeit zu Zeit an seinem Whiskyflachmann schnupperte (nicht zu lange, denn dann verdunstete zuviel davon, er wurde noch
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