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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Zunge lockerte sich nicht.
    Tonios beste Freunde Jim und Jonas unterhielten sich und tranken Bier. Es gab nichts an diesem Nachmittag, das Tonios Anwesenheit intensiver heraufbeschwören konnte als die Gesichter der beiden. Als sie alle drei fünfzehn, sechzehn waren, hatten wir sie zwischen Weihnachten und Neujahr einmal nach Lanzarote mitgenommen. Ein ungefähr gleichaltriges Mädchen, Tanja, das ich nicht nur noch nie gesehen, sondern von dem ich noch nicht einmal gehört hatte, mußte auch mit. Es war unklar, zu wem sie »gehörte« – zu allen dreien, war nach einigen Tagen mein Eindruck.
    Tanja ließ sich durch die Übermacht der Jungs nicht einschüchtern. Gleich nach der Ankunft stürzten sich alle vier auf die Schlafzimmer. Matratzen wurden von den Betten gezerrt und in den größten Raum geschleppt. Sie wollten unbedingt zu viert in einem Raum schlafen, da gab‘s nichts zu diskutieren.
    Es folgte eine Woche voll unbändigem Spaß, wobei Mirjam und ich vollkommen unsichtbar für sie geworden zu sein schienen. Sobald wir auftauchten, bekamen ihre Blicke bei aller Fröhlichkeit etwas Glasiges, in dem wir uns einfach auflösten. Im Restaurant am Meer, abends, hatten die vier ihren eigenen Tisch, der während ihrer ungestümen Gespräche manchmal so weit durch den Raum tanzte, daß die Angestellten sie bitten mußten, kurz aufzustehen, damit er mitsamt den Pizzen an seinen alten Platz zurückgestellt werden konnte. Wenn die Rechnung gebracht wurde, existierten wir wieder ganz kurz für sie, insoweit sie auf uns, die Menschen mit der Knete, verwiesen.
    Es war fast ein Privileg, vier junge Leute ganz aus der Nähe zu erleben, die zusammen so intensiv zu genießen verstanden, Tanja nicht weniger als ihre drei Zimmergenossen. In der Silvesternacht fragte Tonio, ob sie alle einen Wodka mit Cola trinken dürften, um auf das neue Jahr anzustoßen. Ich sagte, sie sollten es nur nicht wagen, einen Milliliter mehr als die Hälfte der Flasche zu leeren.
    »Ihr seid alle noch minderjährig. Mirjam und ich sind für euch verantwortlich.«
    »Juchu, Leute«, rief Tonio, »wir dürfen die Hälfte.«
    Als ich mir später in der Nacht Mineralwasser aus dem Kühlschrank holte, war Jonas gerade dabei, die leere Wodkaflasche mit Leitungswasser zu füllen.
    »Hast du wirklich geglaubt, Jonas, ich würde das nicht merken?«
    Der Junge sah mich dümmlich lächelnd an. Er war nicht mehr von dieser Welt. Am nächsten Morgen schaukelte noch eine leere Wodkaflasche, die die vier offenbar heimlich gekauft hatten, im Pool, inmitten der Grasbüschel, die sie mit einem Golfschläger hineinbefördert hatten.
    Welchen Platz Tanja in dieser Konstellation einnahm und welche Rolle sie darin spielte, habe ich nie herausbekommen. Beim Abschied in Schiphol, wo das Mädchen von ihrer Mutter abgeholt wurde, umarmte Tanja ihre Freunde alle gleich schwesterlich. Nur Tonio machte dabei flüchtig eine zärtliche Handbewegung (mit dem Handrücken streichelte er über ihre Wange, oder vielleicht strich er ihr eine Locke hinter dasOhr), wobei er sie, ohne sein Lächeln zu unterbrechen, eindringlich ansah. Das war alles. Danach hatten wir nie mehr etwas von oder über Tanja gehört. Monate, vielleicht sogar ein Jahr später sprach ich Tonio darauf an.
    »Sag mal, diese Tanja … damals auf Lanzarote … hast du die noch mal gesehen?«
    »Nein«, sagte er in einem Ton, als sei das selbstverständlich.
    »Und Jim … und Jonas … sehen die sie noch?«
    Aufgeräumt: »Die auch nicht.«
    »Ist da auf Lanzarote etwa was passiert … etwas, worüber sie böse sein könnte?«
    Aufrichtig erstaunt: »Nein, wieso?«
    »Ach nichts. Nur so.«
17
     
    Ich möchte nie Vorzeichen erkennen. Vielleicht springen sie mir deshalb erst dann ins Auge, wenn das Unheil unwiderruflich hereingebrochen ist und sie ihre ankündigende oder prophezeiende Funktion verloren haben. Vorzeichen, die keine Warnung mehr in sich bergen, verlieren ihren gefährlichen Glanz: sie verdorren.
    Ich habe einmal eine Liste von Formen des Unheils aufgestellt, das in Romanen beschrieben wurde und dem Autor später genau so oder so ähnlich widerfahren ist. Vorzeichen also, die der Schriftsteller selbst, in Fiktion gekleidet, zu Papier gebracht hat. Wenn die schlimmen Omina in meinen Romanen bei mir einträten, würde ich in kürzester Zeit aufhören zu schreiben.
    Seit dem Schwarzen Pfingstsonntag drängen sich die dem vorangegangenen Vorzeichen förmlich auf. Die Luft um mich herum ist voll von ihnen.

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