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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Efeuteppich, der das Badezimmerfenster in der Seitenfassade des Max-Nord-Hauses schon vor Jahren vollständig überwuchert hat. Mirjam zieht die Vorhänge vor die Aussicht und schlüpft wieder ins Bett. Ich nehme mein zärtliches Streicheln, jetzt unter dem T-Shirt, wieder auf, aber es wollen nicht die Brüste werden, die mir immer die milde Vorglut der Erregung geschenkt haben. Es sind die Brüste, die Tonio gestillt haben. Die Warzen verhärten sich nicht durch Zutun meiner Fingerspitzen, sondern als Reaktion auf das Hungergeschrei aus dem angrenzenden Zimmer.
    Die Hand, die zwischen ihre Beine gleitet, gehört jetzt mir, doch es ist gleichzeitig die Hand, die im Sommer ‘88 zögernd zu prüfen wagte, ob die junge Mutter sich von der Geburt bereits genügend erholt habe, um mich zu empfangen. Sie zeigt, als Antwort auf mein Streicheln, nicht die Reaktionen, die ich bei ihr gewöhnt bin. Meine Hand wird von ihrer abgelöst, doch auch sie vermag nichts auszurichten. Als ich wieder übernehmen will, hindert sie mich daran, indem sie flüstert: »Ich sehe die ganze Zeit Tonio vor mir. In den Ferien.«
    Von diesem Moment an sehe ich natürlich ebenfalls Tonio vor mir – nicht als Säugling an ihrer Brust, sondern als Zehnjährigen. In den Ferien, in der Tat. Mirjam kann mich streicheln und massieren, soviel sie will, ich sehe Tonio vor mir, wie er in jenem Sommer war, in Marsalès. Seinen Tatendrang. Er kommt auf mich zu, eine lebensechte Schlange über der Schulter. Wenn er auf eine spezielle Weise den Schwanz manipuliert, windet sich das Ding um seinen Hals.
    »Die ist nicht echt. Das ist meine Knuddelschlange.«
    Ich sehe ihn an einem kleinen Wasserfall angeln, der den Badesee speist. Er holt in raschem Tempo silbrige Fischchen heraus, die er geschickt vom Haken löst und wieder ins brausende Wasser wirft. Tränen der Wut, als der Campingplatzwart das Angeln plötzlich verbietet, weil er um den Bestand bangt.
    »Ich hab sie doch immer zurückgeworfen. Es war doch nur Sport. Ich denke wirklich an die Umwelt.«
    Ich sehe ihn mit einem Schläger in der Hand vor der Tischtennisplatte tanzen, auf seinen Handrücken diese phosphoreszierenden Röhrchen, die den Gegner verwirren sollen. Jetzt ist es seine Mutter, die ihr Veto einlegt: Angenommen, die Röhrchen zerbrechen, so daß die giftige Flüssigkeit …
    Ich höre ihn betrübt klagen, daß er »noch immer keinen Freund gefunden« habe. Ich sage: »Das muß doch nicht gleich in der ersten Woche sein, oder?«
    »Es hätte beinahe geklappt«, sagt Mirjam, »aber der Junge war zwei Jahre älter, und das findet Tonio nicht schön.«
    Als es Abend wird, fährt er erhitzt auf seinem gemieteten Mountainbike auf das Grundstück. »Ich hab vier Freunde auf einmal gefunden. Beim Tischtennis. Wer eine Partie gewonnen hat, dem hab ich was spendiert. Und jetzt ist mein Geld alle, und ich wollte fragen …«
    »Und haben diese Freunde, wenn du gewonnen hast, dir auch was spendiert?«
    »Nein, weil – ich hab nie gewonnen. Ich kann‘s noch nicht so gut.«
    »Auf dem Schrank im Wohnzimmer liegt ein Umschlag mit Münzen. Hol den mal.«
    Ich kippe den Inhalt des Umschlags auf den Terrassentisch. Eine Menge französisches Wechselgeld. Ich lasse Tonio die wertvolleren Münzen heraussuchen. »Denk dran: Du brauchst nicht als einziger was zu spendieren. Egal, ob du gewinnst oder verlierst.«
    »Okay.«
    Als er auf das Mountainbike steigt, hängt seine Hose schief von den schweren Geldstücken in der einen Tasche. Eine Stunde später kommt er, mit Sturzhelm und Sonnenbrille, fröhlich und noch erhitzter auf unseren Eßtisch zugefahren. Er leert seine Hosentasche und legt den größten Teil des mitgenommenen Geldes auf den Tisch. »Die beiden anderen waren eigentlich keine richtigen Freunde. Also habe ich denen nichts mehr spendiert.«
    Tonio ist freudig überrascht, als ich sage, daß er die Münzen behalten darf. »Weil du so ehrlich bist.«
    »Weißt du, Adri … die beiden Jungs, die meine Freunde sind, äh, die haben mich gefragt, ob ich heute abend zu ihrem Zelt komme.«
    »In Ordnung. Vor dem Dunkelwerden zurück.«
    »Wann ist das?«
    »Ich schätze: Viertel vor elf.«
    »Woher soll ich denn wissen, wann es Viertel vor elf ist?«
    Ich lege ihm meine Armbanduhr um.
     
    Ich habe mich getäuscht, was das Dunkelwerden in Südfrankreich anlangt. Mirjam geht ihn holen. Tonio radelt vor ihr her und sprintet lachend aufs Grundstück, bremst dann hart ab, so daß verdorrte Ästchen unter

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