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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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den Reifen knacken.»Es sind Brüder. Zwei Brüder.«
    »In deinem Alter?«
    »Sie sehen ungefähr gleich alt aus. Ich weiß nicht, welcher der ältere ist.«
    Tonio setzt sich mir gegenüber an den Gartentisch und lümmelt sich faul in den Stuhl. Er hat‘s geschafft.
3
     
    »Mit Dank an Tonio«, sagt Mirjam traurig lächelnd. Wir liegen unbefriedigt nebeneinander, ohne die träge Mattheit früherer Sonntagmorgen. Alle Liebkosungen, alle Berührungen sind wieder Gesten des Trostes geworden, und das ist natürlich auch etwas wert.
    »Es wird noch schlimmer werden«, sage ich. »Ein lebender Tonio ließ sich leicht wegdenken … der ging seiner eigenen Wege … Der tote Tonio ist immer präsent. Den schickt man nicht einfach weg. Er wacht über uns und hat uns ausgewählt, über ihn zu wachen. Wir drei sind einander ausgeliefert bis zum Ende deiner oder meiner Tage.«
    Mirjam liegt auf ihrer rechten Seite. Die Träne aus ihrem rechten Auge wählt den kürzesten Weg zum Kopfkissen. Die aus dem linken Auge muß erst die Schwelle der Nase überwinden, bevor sie die rechte Wange erreicht – und erst viel später das Kissen.
    »Wenn er immer präsent ist«, sagt sie, »dann würde das bedeuten, daß wir weniger einsam sind, wo wir jetzt … na ja, so gut wie niemanden mehr sehen.«
    »Krasser noch, er ist der Garant dafür, daß die Welt ausgeschlossen bleibt. Tonio ist der Keil zwischen uns und dem Rest. Er ist unser Bodyguard … ohne Knopf im Ohr, denn er braucht keine Anweisungen. Leibwache, Geisel und Geiselnehmer in einem. Was wollen wir mehr?«
    »Das.«
    »Was?«
    »Daß das alles nicht nötig wäre … dieses ganze Einigeln und so.«
    »Es gibt kein Zurück.«
4
     
    Ein Bekannter von uns ist Geruchsforscher, was nichts mit der HNO -Abteilung im Krankenhaus zu tun hat. Er beschäftigt sich unter anderem mit Menschentränen und ihrer geruchlichen Wirkung auf den Umgang miteinander. Er hat noch nichts publiziert, die Ergebnisse sind also geheim, aber soviel wollte er schon mal verraten: Frauentränen beeinflussen die männliche Libido.
    »Augennässe stimuliert«, riet ich.
    »Umgekehrt«, sagte er. »Sie beeinträchtigt die Lust auf Sex.«
    »Ich habe natürlich schon mal eine Träne gekostet«, sagte ich. »Aber einen speziellen Geruch habe ich nie entdecken können.«
    »Männer empfinden Tränen als geruchlos. Währenddessen schaltet der Geruch ihre Geilheit aus. In Tränen sind Pheromone enthalten. Eine Art Lockstoff, merkwürdigerweise … allerdings nicht als Werbung für den Paarungsakt.«
    Das erstaunte mich. Ich erinnerte mich an den Abschied von einem Mädchen, 1973, das meinetwegen von zu Hause weggelaufen war, während ich bereits einen Urlaub mit Freunden geplant hatte, in den sie nicht paßte. Sie war bei Freunden untergeschlüpft. Ich ging hin, um mich zu verabschieden. »Es ist nur für sechs Wochen.« Bei meinem Kommen hatte sie zu weinen angefangen und, bis ich ging, nicht wieder aufgehört. Ihre großzügige Tränenflut, verdünnt mit Rotz, hatte mich wie nie zuvor zum Akt stimuliert – doch vielleicht spielte dabei auch ihre verzweifelte Passivität eine Rolle.
    »Den Geruch der Nasenflüssigkeit in seinen Auswirkungen auf die Libido haben wir noch nicht untersucht«, sagte mein Bekannter. »Es könnte sein, daß Rotz aus einer trauernden Schniefnase die Pheromone in den Tränen neutralisiert. Aber das sind Spekulationen.«
    »Wenn ich bei Mirjam Tränen strömen sehe«, sagte ich, »dann habe ich in erster Linie das Bedürfnis, sie intensiv zu trösten.«
    »Denk mal drüber nach«, sagte der Geruchsforscher. »Ich denke, damit bist du ganz nah an der Funktion dieser Pheromone. Lockstoff zum Bieten von Trost.«
     
    Das Leben hat mir eins ausgewischt.
    Meine Umgebung, das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, hat mich immer gelehrt, es sei gut, zu heiraten und eine Familie zu gründen – wenngleich die Familie, aus der ich stamme, nicht gerade ein leuchtendes Vorbild war. Mein Vater war Wochenendtrinker, der seine Verlassensangst mit Selbstmorddrohungen bekämpfte. Ich erinnere mich, wie meine Mutter und wir drei Kinder, vor uns zwei Polizisten, die Wohnküche meines Elternhauses betraten, in der es aus allen voll aufgedrehten Brennern des Gasherds zischte. Papa hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein Streichholz daranzuhalten. Er hatte die Schalter mit blutenden Fingern aufgedreht: Auf der Spüle stand ein zerquetschtes Glas.
    Oben fanden die Ordnungshüter meinen Vater auf dem Bett

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