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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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irrational aufspalten ließ.
    Irrational : daß ich nicht zur Stelle war, um das Auto aufzuhalten oder, falls es dafür schon zu spät war, um Tonio aufzufangen oder zumindest neben ihm niederzuknien und ihm meinen zusammengefalteten Mantel unter den Kopf zu legen … ihm die Hand zu halten … »Ich bin bei dir. Nicht bewegen.«
    Rational : daß wir ihn als Kind nicht besser Fahrradfahren gelehrt hatten. Daß ich nicht darauf geachtet hatte, daß an seinem Fahrrad das Licht brannte. Ich hätte an alle seine Kleidungsstücke, wenn sie im Hause waren, um gewaschen zu werden, Lämpchen und Reflektoren annähen lassen müssen. Aber das tendiert möglicherweise schon zum irrationalen Schuldgefühl.
    Irrational : daß ich nicht irgendwo in der Wirklichkeit jener Nacht eine Sekunde habe verschieben können, um das Aufeinandertreffen von Fahrrad und Auto zu verhindern. Vielleicht hätte ich mein frühmorgendliches Erwachen als Folge einer Speichelflut als Alarm deuten sollen, der zu einer Warnung an ihn hätte führen müssen. Mein Handy lag griffbereit auf dem Bett.
    »Ja, Tonio.« Die immer leicht gehetzte Stimme, diesmal wegen des Fahrradfahrens. Er klingt auch leicht alkoholisiert.
    »Ja, ich bin‘s … Adri. Wo bist du?«
    »Dschieses, warum … Okay, mal schaun, ich fahr gerade mit ein paar Freunden über die Amstelbrücke. Zur Ceintuurbaan. Wir waren in einer Kneipe.«
    »Das hör ich. Wo fährst du jetzt hin?«
    »Dschieses, du mußt auch immer alles … Na schön, nach Hause, denk ich. Jim wartet auf mich. Wir wollten uns noch einen Film angucken.«
    »So spät?«
    »Du kennst Jim. Immer wach.«
    »Und die Leute, die jetzt bei dir sind?«
    »Die fahren noch kurz chillen bei Dennis zu Hause, in der Govert Flinck. Ich denke nicht, daß ich …«
    »Doch, mach mal. Es ist besser, wenn du bei Tageslicht nach De Baarsjes fährst.«
    »Dschieses, Adri, wie alt, glaubst du …«
    »Ich habe ein schlechtes Gefühl deswegen. Ich bin gerade mit einem kollernden Magen aufgewacht. Es klang wie ein Alarm.«
    »Dschieses, Mann, nimm ein Rennie. Wir fahren jetzt die Ceintuur lang. Am Sarphatipark biegen die anderen nach rechts ab. Ich will noch eben mit ihnen sprechen. Hier ist es. Oi, oi.«
    Er hat mich bereits weggeklickt. Angenommen, ich hätte ihn angerufen und dadurch seine Fahrt durch die Stadt um ein paar Sekunden verzögert … angenommen, er wäre trotzdem von einem Auto erfaßt worden … wäre meine Schuld dann nicht nachweislich größer gewesen? (»Hätte ich ihn bloß nicht angerufen.«)
    So türmte ich, im Auge des Sturms der Emotionen, Schuldgefühl auf Schuldgefühl.
    Nicht zu vergessen: SCHAM . Mir selbst gegenüber: Du hast es vermasselt, van der Heijden, er ist dir aus den Fingern geglitten. Mirjam gegenüber: Ich habe einen Sohn mit dir gezeugt, und den gibt es nicht mehr, ich habe nicht verhindern können, daß er dir genommen wurde.
    Scham gegenüber Tonio selbst: Ich habe dich ohne ausreichende Warnungen in die Welt entlassen, sonst wärst du noch da (womit der Beweis erbracht ist).
    Scham, schließlich, der ganzen Welt gegenüber: Ich werde fortan der einst so stolze Vater sein, der seinen Sohn verloren hat. Geht ihm aus dem Weg, dem Paria, er stinkt nach Kummer wie ein nasser Hund nach Spüllumpen. Sein Schmerz ist ansteckend wie die Pest.
42
     
    STOLZ , nicht zu vergessen: auf Tonio.
    Als ich auf der Intensivstation an Tonios Bett stand und ihn sterben sah, war bei allem, was ich durchmachte, auch noch Platz für Stolz. Er starb. Er tat es. Er packte die Sache an und zeigte, wie einfach es im Grunde war. Er führte es seinem Vater vor. Schau, Adri, so macht man das.
    In den darauffolgenden Wochen verzweigte sich der Stolz. Wir waren stolz auf ihn: daß er sich so leichtfüßig durchs Leben bewegt, so viel Liebe geschenkt hatte, so hilfsbereit und freigebig gewesen war und die schwierigen Dinge dabei, soweit wie möglich, für sich behalten hatte. Wir waren stolz auf ihn, weil er sein Bestes in einem Leben getan hatte, das unvermittelt, am Vorabend eines schönen Sommers, ungefragt abgeschnitten werden konnte. Er hatte gelebt, als ob es nicht vorzeitig zu Ende sein könnte. Um seine Eltern zu beruhigen, hatte er ihnen wenige Tage vor seinem Tod, als rückte das Unheil nicht immer näher, seine Zukunftspläne eröffnet. Medientechnologie. Master. Leiden. Den Haag. Bahn.
    Wir hatten das starke Empfinden, er, und nur er allein, habe um sein kurzes Leben gewußt – und es für sich behalten. Daß er

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